Am Erker 88

 
Lyrik, Prosa, Essays
Am Erker 88, Münster, April 2025
 

Cornelia Manikowsky
Heimatkunde (Schreibheft)

Ich weiß nicht, warum ich auf der Schaukel sitze. Ich wollte allein sein und so bin ich in den Garten gegangen. Vielleicht findet sich sonst keine Sitzgele­genheit, vielleicht ist das Gras noch feucht vom frühen Morgen. Oder vielleicht ist es auch trocken und staubig oder der Rasen ist löchrig und so verwachsen, dass man sich nicht auf ihn setzen mag. Vermutlich ist die Schaukel einfach der richtige Ort zum Lesen. Man kann sie vom Haus aus nicht sehen.
Wir sind in einem Ferienhaus, der Garten ist klein und zugewachsen, es gibt Johannis­beeren und Stachel­beeren und Himbeeren und die Vermieter haben uns gesagt, dass wir so viel pflücken sollen, wie wir mögen. Doch die Eltern haben den Kopf geschüttelt. Also essen wir nur von den Beeren, wenn wir sicher sind, dass die Erwachsenen uns nicht sehen. Ich gehe zu den Johannis­beeren, meine Geschwister gehen zu den Himbeeren. Zu den Stachelbeeren gehen wir nur manchmal. Danach kontrollieren wir unsere Münder und die Zähne und entfernen die roten Spuren von der Haut. Es dauert lange, bis die Farbe von der Zunge verschwunden ist. Und die Kerne bekommen wir erst beim Zähneputzen wieder weg. Die Johannis­beeren sind schon ganz dunkel und es sind so viele, dass die Äste bis auf den Boden herabhängen.
Da sitze ich und lese. Ich habe den Arm um ein Seil der Schaukel geschlungen und ab und zu tippe ich mit einem Fuß kurz auf den Boden, so dass die Schaukel wieder ins Schwingen kommt. Mit einem Mal weiß ich, dass ich das später selbst machen will. Schreiben, genau das und nichts als das. Ich bin sechs oder sieben Jahre alt und ich weiß, dass ich schreiben werde.
Eigentlich habe ich es immer gewusst. Es war wie eine Ahnung, ein tiefes inneres Wissen. Da musste mehr sein. Doch ich habe es nie jemandem erzählt. Auch als ich längst angefangen hatte, habe ich es niemandem erzählt. Es ging nicht. Als wäre es verboten. Einfach verboten. Als hätte das mal jemand gesagt, als stünde es irgendwo: Verboten. Schreiben war etwas, das nur andere machen konnten. Oder durften. Ich konnte es jedenfalls nicht machen.
Es ist kalt auf der Schaukel. Am Morgen hat es geregnet, der Rasen ist immer noch nass und in der freige­tretenen Fläche unter dem Schaukel­brett hat sich eine kleine Pfütze gebildet. Auf meinen Beinen ist Gänsehaut. Sie sind braun geworden, doch jetzt sehe ich, wie sich die einzelnen Härchen aufrichten und die Haut wirkt fast bläulich. Ich stoße mich ein wenig mit den Füßen ab, und sobald ich ins Schwingen gerate, halte ich wieder ein. Schnell werden die Pendel­bewegun­gen langsamer. Noch in der Bewegung lasse ich mich ein wenig nach hinten fallen und sehe nach oben. Der Himmel ist fahl und düster. Schließlich strecke ich erneut die Beine. Die Schaukel beginnt von Neuem zu schwingen und ich ziehe die Beine wieder zurück.
Im Garten ist es still. Hin und wieder höre ich ein Rascheln im Gras oder im Gebüsch, dann ist es wieder ruhig. Aus dem Haus ist nichts zu hören. Auch die Nachbar­grundstücke sind ruhig. Jetzt stoße ich mich nicht mehr ab. Leise und vorsichtig ziehe ich die Luft ein. Ich will nicht, dass jemand kommt und mich fragt, warum ich allein auf der Schaukel sitze.
Ich habe die Pullover­ärmel weit über die Handgelenke gezogen, doch die Finger sind dünn und steif geworden und ich mag die Seile der Schaukel nicht mehr anfassen. Alles ist feucht und klamm. Auf den Gras­büscheln in den Fugen des Platten­wegs glitzern die Wasser­tropfen. Eigentlich sieht es schön aus. Man muss ganz kleine Schritte machen, wenn man auf den Platten bleiben will. Oder man nimmt zwei Platten auf einmal. Und wenn man gegen die nassen Grashalme stößt, gibt es einen kleinen glitzernden Regen.
Ich nehme ein altes Schulheft und reiße die beschriebenen Seiten heraus. Auf dem Etikett steht "Heimat­kunde", und darunter steht mein Name und die Klasse. Erst will ich es durchstreichen, aber ich weiß nicht, was ich stattdessen schreiben soll. Und dann soll man auch nicht gleich sehen, was in dem Heft ist. Also schreibe ich nur "Schreib­heft" unter "Heimat­kunde", klein und unauffällig.
Dann fange ich an. Ich mache mir Notizen und ich schreibe einzelne Sätze. Manchmal sind es auch nur zwei, drei Wörter. Wenn ich sie später lese, verstehe ich sie oft nicht mehr. Und ich schreibe Textan­fänge. Ich habe immer Sehnsucht zu schreiben. Die Sehn­sucht ist dumpf und dunkel und sitzt tief in der Brust, wie ein Schmerz, der nicht vergehen will. Am schlimms­ten ist es, wenn ich lese. Und auch wenn ich schreibe, ist sie immer da.