Am Erker 70

 

 
Texte
Am Erker 70, Münster, Dezember 2015
 

Doris Weininger
Stroboskopblitze im Nahverkehr

Inmitten des hektischen Bahnhofstreibens ruht die Imbissbude wie ein feudales Marmorgebirge. Aus der pompösen Kristallkugel darüber wehen Seifenblasen. Ein kleiner Junge mit etwas Monsterähnlichem im Arm fixiert diese Pracht und klärt seine Mutter auf, sicher sei ein Quantencomputerlabor darin versteckt und sende mit abhörsicheren Lichtteilchen Informationen von der Pommesbude zum Eissalon. Fast sympathisch ist mir der aufgebrachte Reisende gegenüber, der über das teure Pommesmus flucht und sich als Erbauungsschonkost Bier und vier Kurze genehmigt. Besser Reißaus nehmen.
In wenigen Minuten lässt die Regionalbahn Augsburg hinter sich. Statt Ausflug eine berufliche Passage nach Fürth über Nürnberg, und alles mit der Sparvariante, da die Streckenlänge die Benutzung eines ICE nicht rechtfertigt. Meine Stimmung ist bräsig. Vielleicht tue ich Fürth mit meinem Missmut unrecht, gibt es dort doch flamboyante Galerien, und auch die Stadthalle soll eindrucksvoll sein. Nur sprechen mich diese Kathedralen nicht an, und laut Max Goldt ist jeder Schlager eine geschmolzene Stadthalle.
Zugabteile sind für mich Rückzugsgebiete, und ich erwarte, beim Dösen nicht gestört zu werden. Vor der Abteiltür steht einsam ein Koffer, anthrazitfarben mit Aufklebern. Der Himmel ist herausgeputzt wie polierter Edelstahl, und über den Bierflaschenscherben vor dem Mülleimer wirft die Sonne eine Spalierkrone.
Bahnfahren à la Fontane oder Tschechow, das ist vorbei. Anstandshalber lässt man seine Begrüßungsphrasen im Abteil ab und hofft, dass kein Thomas Bernhard den Lokführer gibt. Im Abteil sitzt bereits ein Passagier mit Laptop, blättert Parkettprospekte durch, vergleicht Preise und tippt in eine Excel-Tabelle. Neben ihm liegt ein kleiner Nürnberg-Reiseführer mit der Lorenzkirche. Dort lauern Würmer und Maden und Engel, die den Trancetherapeuten Milton Erickson inspiriert haben, seine Klienten in Hypnose zu versenken. Wahrscheinlich haben den Mitreisenden die Preise erschlagen - es wird dann wohl doch nur Laminat werden -, jedenfalls schläft er in während der Reise sich wandelnden Stellungen von gestreckt über embryonal bis zum sterbenden Schwan von Nurejewscher Grandezza.
Im Abteil sitzt noch eine der im Volksmund als Soja-Latte-Macchiato-Mütter bezeichneten Frauen. Gedeckte Farben, Fair-Trade-Oberbekleidung, in der Hand einen vitaminreichen Pfirsich-Weizengras-Smoothie. Via Handy gibt sie Bescheid, dass sie mit ihrem Sohn Felix nun im Zug sitze. Das hat mir gerade noch gefehlt, mit dem Schlauberger von der Imbissbude im selben Abteil zu sitzen. Das Söhnchen wirkt blasiert, rutscht dabei aber ausgelassen auf dem Sitz herum. Felix trägt dunkelblaue Knickerbocker, dazu rahmengenähte Doc-Martens-Stiefel und karierte Strümpfe und hat ein Mützchen auf. Gelangweilt lässt er Raketen auf seinem iPad hochgehen, die von possierlichen, aber gefährlichen Spinnen mit hinterhältigem Kichern gefressen werden. Dann zerrt er einen grünen Stoffdrachen aus seinem Rucksäckchen. Eigentlich war ich darauf gefasst, dass das Tier aus einem nostalgischen Spielwarengeschäft an der Fifth Avenue stammt, aber der Drache sieht aus, als hätte er schon zu Orson Welles' Zeiten in Jurassic Park mitgespielt. Eigentlich ist er nur noch Reminiszenz an einen Drachen; die Zacken stehen in alle Richtungen, sein Plüsch ist schmutzig und der Frotteestoff glatt gerieben. Felix wühlt weiter im Rucksack und fördert eine Stirnlampe ans Licht. Ungefragt erläutert er, dass man in den Solnhofener Steinbruch gehen werde und er die Lampe für den Notfall brauche.
Zwei Polizisten schauen zur Tür rein. "Nur Routine", sagen sie lächelnd. Der kleine Drache wackelt mit dem Kopf, und Felix antwortet für ihn: "Die suchen einen Verdächtigen, der die Gesetze der Geheimdiplomatie gebrochen hat." Der Junge will also der Unterhalter des Abteils werden. Schon verabschieden sich die Ordnungshüter wieder und ermuntern zum Weitermachen. Wie ein schläfriges Krokodil klappe ich die Lider zu und hoffe inständig, dass die Forschungsaktivitäten des sicher bald etablierten kleinen Wissenschaftlers mit seinem Drachen sich auf den leisen Verzehr von Eis, dann Schokoriegeln, dann noch mal Eis beschränken und sich das Blei der Müdigkeit in ihn senkt.
Doch der Drache und Felix bemerken stattdessen, dass der Koffer nicht mehr da ist, und überlegen, wer ihn mitgenommen hat. Leise pustet die Drachenstimme: "Ein Ungeheuer", während ich die kleinen Störungen wahrnehme, die meine Ruhe beeinträchtigen: Eine sich rötende Girlande, die normalerweise versteckt am Oberarm ruht, blüht plötzlich über Hals und Nacken bis hinauf zum Gesicht. Meine Hand ist bereits mit unangenehm juckenden Quaddeln überzogen. Der Drache und Felix sitzen einmütig mit nachdenklicher Miene da, ungerührt auf ein Ungeheuer wartend. Hingegen verlebendigt sich meine Schuppenflechte mit der Fehlleistung meiner T-Zellen (T-Lymphozyten), und ich sehe mich durch dieses ständige Auf- und Abkrabbeln der juckenden und kitzelnden Hautpartien bald mich bis zum Rumpf aufbäumen oder die Brücke der Hysterie darstellen, wie Louise Bourgeois sie so eindrucksvoll gestaltet hat, und ahne schon, wie ich in einer Zwangsjacke erbarmungslos aus dem Abteil gezerrt werde. Nicht jedem ist es wie Zarah Leander, Romy Schneider oder Art Garfunkel bis hin zur Textmaschine John Updike gegeben, stigmatisierende Hautdeformationen als Triumphzug stramm marschierender Kreativität zu verbuchen.
Felix wispert mit seinem Drachen, während Augsburgs Industriebrachen längst hinter uns liegen. Als verwöhnt und arrogant hatte ich ihn eingeschätzt, doch plötzlich schaut er mich an und deutet auf den Drachen. "Das ist mein James Bond." Nun gut, da hat er sich ein schweres Kaliber ausgesucht. Soll ich dann vielleicht die Rolle von M übernehmen? Was hat er denn vor? Wäre das Bübchen schon um einiges älter und hätte ein paar Studienabbrüche hinter sich, es wäre wohl ein Apokalypse-Idiot, dem nicht mehr zu helfen ist. Heißt es nicht, im Steinbruch Dossenheim treffen sich Verschwörungstheoretiker, weil der Porphyr dort ein Schutz vor der bösen Welt sei?
Der Kleine hat an der Stirnlampe den Stroboskopmodus gefunden und will anscheinend durch wuselndes Geflacker alle Mitfahrer in den Wahnsinn treiben. Ich bin so weit, mir verstohlen die Parkettprospekte unseres Schläfers zu nehmen, und übe mich in Ignoranz. Der Kleine meint sachlich, dass sich die Lampe auch zur Selbstverteidigung eigne, falls er und sein kleiner James-Bond-Drache von Nashörnern angegriffen werden. Kann sein. Wenn Ionescos Nashörner trampeln, ist es wohl für den Letzten der Menschheit noch das Beste, sich in Sicherheit zu bringen. Der Kleine hat sich offenbar selbst aus der Puste gebracht und nickt plötzlich ein, die Hand auf dem Drachen, der aussieht, als habe er jahrelang im Straßengraben gelegen, mit Flusen, die wie kleine Antennen abstehen.
Anscheinend fehlen den Polizisten die Illegalen, denn nun vertreiben sie sich die Zeit, indem sie mich nachhaltig in Augenschein nehmen. Ich sehe zwar nicht wie ein Kiffer aus, fühle mich aber mittlerweile so, als hätte ich mir den kleinen Jungen als Transporteur geangelt und den Drachen mit Dope vollgestopft.
Ab Donauwörth rattern wir auf maroden Gleisen, der kleine Felix wird nach einer Erschütterung hochgerissen, und hellwach bringt er seinen James Bond wieder in Stellung und legt seinem schmuddeligen Drachen lustige Sätze ins Maul. Die Mutter vertieft sich in Angezogen von Barbara Vinken. Wie spaziert doch die Mode durch alle Zeiten! Ernsthaft blättert sie, und als die Sonne sie am Treuchtlinger Bahnhof in eine Gloriette hüllt, meint man fast, sie sticke am Fenster an einem Gobelin, während aus dem Nachbarabteil ein Spinett erklingt.
Obwohl die Sonne noch vor wenigen Minuten glühte und das Wiesenschaumkraut über die Gräser spitzte, ist das Altmühltal ein bisschen trüb verschnupft. Ans Fenster fliegen weiße Fussel, die aussehen, als hätten Seidenpflanzen ihrem federleichten Nachwuchs lange Härchen mitgegeben, damit die Reise mit dem Trick, sich aneinanderzukletten, gemeistert werden kann. Die Samen sind ganz leicht, so nimmt der Wind sie mit, ehe sie zu Boden gehen, und wenn sie nicht auf reichlich Wasser zum Keimen treffen, haben sie wenigstens ein paar Meter der großen weiten Welt gesehen. Ein Mann fragt uns sauertöpfisch, ob wir wissen, wo sein Koffer sei. Hinter sich her zerrt er einen Golftrolley, für einen Regionalzug ein etwas übertriebenes Gepäck. Im Gleichtakt nicken wir ihm zu, freundlich wie Tick, Trick und Track vor Onkel Dagobert. Der Mann ist nervös - vermutlich hat er keine Fahrkarte, obwohl das angesichts der Golfausrüstung überraschend wäre.
Obwohl wir dem seltsamen Kauz freundliche Blicke schenken, winkt er unentschlossen ab, Spannung schwebt über der Tür. Die Frau mit dem feinsinnigen Jane-Austen-Antlitz schaut fragend von ihrem Modebuch auf. Unser schlafender Mitfahrer zuckt hoch und lanciert knapp: "Das ist das Ende der Utopie" - zusammenhangslos, aber zur Frage des Golfmanns passend, ob wir wüssten, wo sein Koffer sei. Er habe ihn in Augsburg im Zug abgestellt, dann aber telefonieren müssen und sei in den letzten Waggon gegangen, weil man dort Netz habe. Der Drache meint dazu ernsthaft: "Ich fürchte, Ihr Koffer ist unterwegs, mit einem Happy-End ist da nicht zu rechnen." Charmant gemein! Ich halte mich zurück, um den Mann nicht mit meinem Gelächter zu demütigen. Er sieht verständlicherweise bekümmert aus und macht sich auf die Suche nach dem Koffer. Resümierend meinen Drache und Felix, er reise wohl als verdeckter Agent mit Golfgepäck, eine Kletterausrüstung wäre glaubwürdiger, zumal die Fränkische Schweiz zur Ertüchtigung ganz nah sei. So wirkte der Mann verloren und wie ausgesetzt zwischen dem Altmühltal und einer ominösen Endstation, vielleicht Havanna.
Endlich fährt der Zug in die Dürer-Stadt ein, hinter uns liegen blumenübersäte Wiesen, und man meint, duftende Wacholderhänge im muffigen Abteil zu riechen. Die Wolken haben Verschnaufpause. Als wir aussteigen, steht wieder der anthrazitfarbene Koffer im Gang.
Habe ich schon erwähnt, dass ich nicht gern Regionalbahn fahre? Für mich ist das wie Berghütten, wo man mit wildfremden Menschen zusammengepfercht liegt, oder wie Campingplätze, wo man sich das Waschbecken teilen muss. Aber wahrscheinlich ist die Bahn dennoch ein archetypischer Sehnsuchtsort.

 

Doris Weininger, *1966, lebt als freiberufliche Archivpflegerin und Kalligrafin in München.