Am Erker 59

 
Texte
Am Erker 59, Münster, Juni 2010
 

Emanuel Maeß
Lichterlust

Seit ich denken kann, und wohl auch ein paar Jahre davor, haben wir unsere Sommer immer am Meer verbracht. Irgendwann Ende Juni machten wir uns dann mitten in der Nacht mit reichlich Koffern, Proviant, warmen Decken und dem RFT Sternrecorder, der in der Lage war, das Motorengeräusch unseres Wagens mit Pink Floyd zu übertönen, auf den Weg nach Usedom. Im Universum meines kleinen Landes kreiste unser Trabant jedes Jahr um dieselbe Zeit auf einer ellipsenförmigen Bahn um ein Berliner Zentralgestirn, deren Scheitelpunkte, das Werratal im äußersten Südwesten und die Küste der alten Kaiserbäder im äußersten Nordosten, damals noch etwa eine halbe Tagesreise auseinanderlagen. Berlin, Leipzig oder Dresden blieben mir zu Kinderzeiten völlig fremde Planeten, die nur der Gravitation wegen von Bedeutung waren, mit der sie Umlaufautobahnen um sich herumlegten. Das Land, das wir auf langen Geraden passierten, kannte ich kaum, und man sah offenbar keinen Grund, mich näher mit ihm vertraut zu machen. Als ich gegen fünf oder sechs auf der Rückbank des Wagens erwachte, durchzogen wir schon Gegenden, die sich anders als meine thüringische Heimat flach bis zum Horizont ausdehnten; er rückte hier in eine solche Ferne, dass die Sonne, ohne die rechten Erhebungen für einen ihr gemäßen Auftritt zu finden, weite Wege zurücklegen musste und dann hinter Feldern von ungeheuren Dimensionen aufdampfte, die offenbar irgendwelche Titanen bestellten; über Stunden rauschten wir am selben Weizenfeld vorbei, das allem Anschein nach einem einzelnen Großbauern gehörte und kein Ende nahm. Mich beschäftigte während der ganzen Fahrt, des überlangen und ereignislosen Introitus Gaudete unserer sich über die Jahre herausgebildeten Meerfahrts-Liturgie jedoch nur die Frage, wann wir endlich die See erblicken würden. Sobald wir von der Autobahn auf die von Alleen gesäumten Kopfsteinpflaster abfuhren und rings wieder Kornblumen und wilder Mohn die Monokulturen unterwanderten, stieß unsere Knatterpappe, deren Klangverhalten mein Vater immer mit einiger Skepsis verfolgte, ihre heiseren und bangen Kyrien aus; dann endlich das Gloria des ersten Wiedersehens, wenn von einer der wenigen Erhebungen auf dem Festland der bläulich blitzende Streifen am Horizont in den Blick geriet, vor dem wir uns bald, seinem erhabenen Anblick gemäß, hinabfahrend verneigten.

Meinem Vater war von einer staatlichen Planungsbehörde eine Stelle als Arzt in einer Betriebsferienanlage zugewiesen worden, zu der wir jeden Sommer zurückkehrten, einem heruntergekommenen Waldhotel 'Strandläufer', das der Staat den Arbeitern des Meininger Lokomotivenwerks den Sommer über für wenig Geld überließ. Seine Aufgaben dort hielten sich im Rahmen; er stellte die medizinische Versorgung der Leute sicher, gab darauf acht, dass man die Hygiene-Vorschriften einhielt, pflegte Sonnenbrände und Wespenstiche, widmete sich Flöhen, Fußpilz, Würmern und Bauchschmerzen, lag aber meistens mit Mutter schon früh am Strand, ging ausgiebig baden und machte lange Waldläufe. Wir kamen während dieser Wochen in ein paar schlichten Hütten und Bungalows um das Hotel unter, das auf seine alten Tage ein wenig verwirrt schien und von dem keiner recht wusste, wie es in diese Waldsenke im Rücken der Steilküste und zwischen all die Buchen geraten war, die hier seit Anbeginn der Zeit in gotische Höhen emporstrebten und mit dem Fächergewölbe ihrer smaragdenen Blätterkronen von Harzduft erfüllte Hallen errichtet hatten. Grau, gebückt und baufällig stand der 'Strandläufer' nun unter zwei Himmeln, einem blauen, der bei leichtem Seewind tanzende Stroboskopeffekte auf den Waldboden warf, und einem blätternen, aus dem es leuchtend grün über Äste und Stämme auf ihn herabrann. Daneben ein größeres Wirtschaftsgebäude, in dessen Schatten sich der Fahnenmast mit dem gehissten Jungpionieremblem ein wenig seltsam ausnahm; eine brennende Fackel mit dem Aufruf Seid bereit! (doch bereit wofür?). Lange bevor man nach der Wende vom "Ende der Geschichte" sprach, hatte die Ewigkeit des Raums hier längst von der Zeit Besitz ergriffen; in jenen zehn Jahren, in denen wir unter den Bäumen unterkamen, veränderte sich nicht das Geringste; derselbe staubige Sportplatz, die schwarzen Fußsohlen, dasselbe Ungeziefer, die Wildschweine, die abends bis an den Rand der Anlage kamen, um sich an den Küchenabfällen gütlich zu tun, die kalten Gemeinschaftsduschen, die Bottiche mit Desinfektionsmitteln vor den verdreckten Toilettenanlagen, deren Unmöglichkeit meinem Vater jedes Mal neues Kopfzerbrechen machte, dasselbe Essen, mehr oder weniger dieselben Leute, der Duft von See, Moos und Morcheln, das Grün, der Wind, der Weg des Lichts, der gleiche Sog, der alles zur See hinauszog; die Unveränderlichkeit der Gegend brachte es mit sich, dass ich immer all das wiederfand, wonach ich mich den Rest des Jahres gesehnt hatte. Am schnellsten gelangte man zum Meer, wenn man die Anlage auf einem Waldpfad durchs Unterholz und wilde Himbeeren verließ, der bald zu einem natürlichen Säulengang anwuchs und nach oben hin einem offenen Stück Himmel entgegenstrebte, dem wir gleich nach unserer Ankunft lichtangebunden und voller Ungeduld emporfolgten.

Dem Anblick der See vom Langen Berg aus konnte man zunächst kaum standhalten; nachdem sie, die weit unter mir lag, für einen Moment über mich hinweggegangen war und noch ehe ich etwas denken oder sagen oder über das lange hölzerne Treppengestell zum Strand hinabgehen konnte, kamen mir von unten schon ihre Pagen entgegen, die mich in zeitloser Gastlichkeit um jegliches Reisegepäck und Gewicht erleichterten. Oft stand ich dann noch eine Weile schwerelos und ließ mir zwischen Seggen und Strandhafer die Flut durchs Gemüt ziehen; seltsam, wie sie sich nicht an meinen Dämmen brach, sondern ungehindert in alle inneren Kammern floss und sie so lange ausfüllte, bis ein paar Gedankenvögel, die sich für eine Weile auf dem Brunnenrand meines Rest-Ichs niedergelassen hatten, laut aufflogen, um nicht nass zu werden, sich wie Blicke lösten und dann an der Steilküste hinab über Reste von Kiefern, abgegangene Büsche, Wurzeln und hellgelben Ton segelten und sich weiter unten von Land- und Seebrisen auffangen und über ein paar Strandkörbe und Nacktbadegäste zum Meer tragen ließen, wo sie bald in der Brandung verlorengingen. Gegen Mittag beherrschte die See sämtliche Partituren, lief allen Gesichtskreisen über die Ränder und wälzte Wind- und Wassermassen in solch unbeirrbarer Regsamkeit um, dass in alle Erhabenheit fast etwas Bodenständiges kam; sie glich um diese Tageszeit sogar ein wenig meiner Großmutter, die mit ihren Beeten im Pfarrgarten im Großen und Ganzen dasselbe tat. Hinter fernen Dunstgewinden zogen Tanker und Traumschiffe des Wegs; ich äugte noch einmal ins Blaue - war sie's wirklich? -, drehte ab und würde später allein zu ihr zurückkehren.
Für den Höhepunkt und Abschluss jedes Sommers, eine sonderbare Eigenart des Ostens, die sich nur schwer erklären lässt, vergaßen im 'Strandläufer' alle, was sie waren, und das ganze Personal, Betriebsleiter, Bademeister, Parteisekretäre, mein Vater, der Koch, der in vielem an eine Gelbbauchunke erinnerte, aber wie man erzählte, mit seinem Lied ganze Scharen von Frauen übermannte, alle bemalten sich mit grüner oder schwarzer Farbe, kleideten sich mit muschelbesetzten Netzhemden und fürchterlichen Masken; einer setzte sich, ich weiß nicht wie, ein Ersatzauge ein, das seiner Starre wegen sehr bedrohlich wirkte; andere zogen als schwarze Sensenmänner, sehnige Häscher, barbusige, schuppige und halbverweste Seemannsbräute oder Trommler los. Der ganze Tross entfernte sich dann heimlich, stieg am Strand in ein paar Boote, auf denen man ein wenig aufs Meer hinausfuhr, um für den Rest, die Kinder und zugeeilten Strandurlauber den Eindruck erwecken zu können, man nähere sich von fernen Grotten. Auch meine Freunde verkleideten und bemalten sich, schminkten ihre Gesichter, umgürteten sich mit Flechten, Rohr und Buchenreisig, steckten sich Heckenrosen ins Haar oder traten als zerfetzte Piraten auf. Unter einigem Getrommel und Gerassel tanzten sie später an den Strand, wo ihnen Neptun mit Krone und Dreizack schon entgegenfuhr, den Wassern entstieg und von den Getreuen auf seinen dürftigen Ersatzthron getragen wurde. Nachdem er dort die Namen derjenigen ausgerufen hatte, denen die Ehre zuteil wurde, von ihm getauft zu werden, rannten die Betroffenen davon, wurden aber bald von den Häschern wieder eingefangen, je nach Gegenwehr mehrere Bahnen im großen Kreis herumgeschleift und in den heißen Sand vor Neptuns Thron geworfen. Der sprach ein paar salbungsvolle Worte, dann wurden dem Täufling für gewöhnlich faule Eier auf dem Kopf zerschlagen, man begoss ihn mit großen Suppenkellen einer aus Essig, Senf und Mehl zusammengerührten Brühe, die er vorher meist zu kosten hatte, ließ ihn die Füße des Gottes küssen, gab ihm seinen neuen Namen und warf ihn ins Meer, dass er gereinigt und erhoben daraus zurückkehre. Nach den Taufen aber spielten sich oft seltsame Szenen ab; Neptun und sein Gefolge veitstanzten, angefeuert von mehr und mehr Wermut, Klappern und Rasseln, von dannen, erschreckten mit ihren trunkenen Gesängen noch eine Weile vorbeiziehende Urlauber und erreichten Zustände solch tiefer Einsicht in die Welt, dass mein Vater manchen davon abhalten musste, ins Meer zu gehen und sich in die Fluten zu stürzen. Nach einer halben Stunde klang das wilde Treiben ab, es kehrte wieder Ruhe ein, und alle lagen splitternackt mit Resten von Bemalung, Eier- und Brandungsschaum im Bart im Sand und ruhten erschöpft aus.
Passanten mochten den turbulenten Seeszenen mit Ratlosigkeit und amüsierter Neugierde begegnen, ließ sich hier doch manch kulturmorphologische Einsicht in die Seelenhaushalte eingeschlossener Gesellschaften gewinnen; mir war dies alles völlig gleich. In meiner lächerlichen Montur aus grünem Krepp, Seetang und Zapfen-Gebinden bedrängten mich Dinge, die mir seltsamer vorkommen mussten als der kostümierte Ferienklamauk pflichtvergessener Lokomotivbauer, die hier ozeanisch-antike Taufriten an Ostseestränden nachstellten. Durch die weißen Bergstraßen-Villen hindurch blaute es mir wunderweit in Kobalttönen; nur an einem Binnenmeer sind die Geräusche zur Mittagszeit so gedämpft, dass man in diese sanften Fönstunden einlaufen konnte wie in seine stillste Bucht. Pan hätte hier die Flöte ausgepackt, wäre es eine Zeit der Hirten und nicht der Arbeiter und Bauern gewesen, die in den bröckelnden Strandvillen über zwei Urlaubswochen ihrem erfrischenden Badekommunismus frönten. Der große Mittag zog mich durch den Wind, durch Stunden abstandslosen Staunens, Strömungen und Unterströmungen der Straßen und Promenaden, die voller Musik und Buden waren und doch nur gaukelnder Vordergrund für das getäfelte Meer. Ich verlor mich in den Distanzen der alten Bäder, zwischen Seebrücken, lausigen Kurorchestern und Scharen von Möwen, blieb manchmal, bis die Badegäste am Nachmittag abzogen, wenn die Sonne nachließ und hinter dem Wald verschwand, der sich in Ufernähe mit seinen zerzausten und fast völlig entlaubten Baumbücklingen vor der See krümmte. Die hatte sich inzwischen geglättet und führte für ein paar letzte Schwärmer und andächtige Anhänger ihre gemurmelten Litaneien auf, in denen dann, soweit ich mitbekam, viel von ewiger Wiederkunft die Rede war.
Selbst wenn ich mich dann schon beeilen musste, nach Hause zu kommen - denn man vergaß hier nicht nur die Zeit, sondern unterschätzte auch den Weg, da sich die Gegenden am Strand sehr ähnelten und man sein Vorankommen nur an den vorbeiziehenden größeren Rundfelsen erahnen konnte, die wie Findlinge auf den Sandbänken saßen -, hing ich mich auf mancher Mole in das auf- und niedergleitende Gefunkel ein und wurde dort ganz Lichterlust. Und während das Wasser noch über meine Zehen ging, drehte ich mit den Möwen ein paar letzte Runden über abendlichen Großgewogen. Das Verhältnis der Elemente lag einem dort oben um einiges klarer vor Augen; zwar war eine Weile vergangen, seit der Alte die Wasser voneinander getrennt und das Himmelsgewölbe dazwischengeschoben hatte, noch immer aber wiesen Naturell und Habitus der beiden auf gewisse Verwandtschaftsverhältnisse hin, selbst wenn Vater Äther ab und zu ein wenig reserviert und erhaben tat und auf die leicht borderline-gestörte Seetochter herabzublicken schien. So lange ich das Geplauder der beiden auch verfolgte, um herauszuhorchen, ob sie sich schätzten, für den Abend verabredeten, über Licht und Luft miteinander korrespondierten: Bald musste ich erkennen, dass sie offenbar Besseres im Sinn hatten, als sich auf meinen klappernden Satzgerüsten niederzulassen. Stattdessen verkehrten sie in einem fremden, seltsam fesselnden Idiom, das mich dem tosenden Tremendum mit einer Reihe hilfloser Gestikulationen antworten ließ, die dann ebenfalls keiner rechten Syntax gehorchten, wohl aber die Frage umkreisten, was es zu bedeuten hatte, dass die beiden Unendlichkeiten an dieser Stelle so vielsagend aufeinandertrafen und nirgends sonst; was es mit dem Horizont auf sich hatte, der diese unmögliche Geometrie zusammenheftete und, obgleich er deutlicher nicht hätte vor mir liegen können, doch unerreichbar war und vor jeglichem Zugriff zurückwich (oder hätte man nicht doch, Mut und Jesuslatschen vorausgesetzt, den beglänzten Wasserweg sonnezu hinaufeilen können, das Haupt in Horizontgewölk zu halten)? Was immer mir durch den Sinn ging: Ich konnte es in keine Sprache fassen, über die die See nicht salzig hinweggegangen wäre, um sie so lange auszuwaschen, bis nur noch harte runde Begriffe, Hühnergötter und Donnerkeile, von ihr übrigblieben. Am Ende meiner Spaziergänge hatte ich dann die Taschen voller Muscheln und Gedanken, die dank der See gereinigt und von allen Schalen befreit worden waren und die ich nun zu einer endlosen Kette aneinanderreihen und nach Hause mitnehmen konnte, wo sie - ach! - von Schlaf und Traum wieder aufgetrennt wurden und ihre Glieder sich lösten, zu Boden gingen und in alle Richtungen der Nacht davonsprangen ...