Texte
Am Erker 55, Münster, Juni 2008
 

Annette Amrhein
Ich nicht, du nicht - er

1.
Immer sträubt sich das Haar, wenn Sven sich die Frisur Fischbachs machen will. Es trotzt Rundbürste, Haarlack, Spray. Borstig auseinandergespreizt steht es um das Zentrum eines Wirbels, gleich einem Pinsel, mit dem beim Malen zu sehr aufgedrückt wurde. Sven feuchtet es an, zieht es beim Fönen auf die Kopfhaut herunter. Schon steht es wieder hoch.
Verräterisches Haar. Wenigstens der Scheitel links kommt dem Vorbild nahe. Er ist streng gezogen und zu weit nach hinten geführt. Wie bei Fischbach bildet er einen hellen Streifen, als wäre der Kopf einmal an dieser Stelle geöffnet worden und eine Narbe davon zurückgeblieben. Sven seufzt. Das ist es, denkt er, was sich manch einer wünscht: Fischbachs Schädel öffnen, ihm ins Hirn glotzen, den geheimsten, verstecktesten Gedanken aufspüren. Weil das unmöglich ist, lesen sie seine Bücher, vor allem die Tagebücher, in denen Intimes steht - von Fischbach gesäte Andeutungen, die aufgehen zu Gerüchten. Da wird das Armdrücken zur Schlägerei, der harte Griff an die Hüfte zum sadistischen Spiel.
Einige kennen Fischbachs Leben bis in kleine Details, sprechen von dessen Freundinnen so vertraut. Die beschreiben sogar die Gerüche der Frauen. Von einem feinen Hauch der Haut nach brenzligem Feuerstein hatte einer im vergangenen Jahr gesprochen, dabei erwähnt Fischbach Düfte niemals. Am Spiegelrahmen hängt ein Foto Fischbachs, das neueste, das Sven finden konnte. Offenbar hat Fischbach den Schnauzer etwas gekürzt - Sven nimmt die Schere aus der Schublade. Feine Bartspitzen fallen auf den Waschbeckenrand und die Bodenfliesen hinab. Sven gibt Haarwachs auf die Fingerspitzen, zwirbelt den Schnauzbart. Sein Blick pendelt zwischen dem eigenen Spiegelbild und dem Foto am Rahmen. Zwischen Fischbachs Augen, an der Nasenwurzel, ist eine tiefe Falte quer in die Haut gegraben. Ist Fischbach in einem Jahr so gealtert? Sven sucht nach dem mittelbraunen Augenbrauenstift und zeichnet die Falte auf seine Haut. Er schaltet den Fön ab, legt ihn weg. Dann nimmt er das Foto vom Rahmen des Spiegels und steckt es in seine Brieftasche, den Stift in sein Jackett.

2.
Auf den ersten Blick vierundzwanzig Mal Fischbach - Männer mit Zigarre in der Hand, einer Fürst Bismarck, die Körper in anthrazitfarbenen doppelreihigen Anzügen, die Schnauzbärte katzengrau, gezwirbelt, immerhin unterschiedlich lang.
Wer genauer hinsieht, erkennt: Viele Bärte sind unecht, angeklebt. Drei Männer sind lächerlich klein, zwei Köpfe kleiner als der wahre Fischbach mit seinen einsneunundachtzig, die er offiziell groß ist.
Jetzt reicht ein Mann Sven die Hand zur Begrüßung. Hat er den je zuvor gesehen? Der Oberlippenbart ist zu lang, zu dunkel, der Mann sehr mager, aber das trifft auf viele zu. Der Mann hat einen fremden Akzent!
Sören Hansen heiße er, sagt der andere und fügt hinzu, er sei Däne. Sven schaut ihn überrascht und zugleich müde an. Nach Dänemark ist das Fischbach-Fieber übergesprungen?

Die Männer in der Runde reden, worüber sie in jedem Jahr reden - ob Fischbach beim Treffen selbst dabei sein wird?
"Du bist die ähnlichste Fissbach von alle", sagt Hansen. Sven wehrt mit einer Handbewegung ab, Hansen lässt nicht locker. "Vielleicht bist Du die echte Fissbach sogar", ergänzt er und grinst.
Sven schüttelt den Kopf. "Ich nicht", sagt er, wiederholt es: "Ich nicht", lässt ein paar Sekunden verstreichen, sagt zu Hansen: "Du nicht - er." Und zeigt in irgendeine Richtung, auf einen Mann, den er sich nicht einmal genau angesehen hat.

3.
Jetzt geht es zu Tisch. Die Männer schieben sich in einer Schlange den schmalen Durchgang vom Rasenvorplatz zu den Terrassen hindurch. Wo sie gehen, bildet sich Nebel aus Zigarrenrauch. Sie setzen sich an die Tafel, legen unisono die Fürst Bismarck auf den Aschenbechern ab, vier Rillen für vier Zigarren, die mit den glimmenden Spitzen aufeinander zeigen.
Die Tische sind gedeckt wie im Roman Fischbachs beschrieben: Legenden von Schwarz und Grau. Weiße Tücher, darauf kleine Decken in tiefrotem Samt mit Bordüren - sogar das antike Jugendstilporzellan hat man herbeigeschafft. "Wie in den Legenden", sagt der Mann neben Sven euphorisch. Die Tische seien in jedem Jahr so gedeckt, antwortet Sven. Sein Blick fällt auf die Hände des Mannes. Sie halten den Suppenteller hoch, drehen ihn um, heben den Teller dicht vor die Augen, damit der Mann den Stempel des Porzellans lesen kann. Die Hände sind viel zu sommersprossig, um Fischbachs Händen ähnlich zu sein.
Sven sieht den Bedienungen zu, wie sie in langen Schürzen mit Rüschen umhergehen und Hecht mit Rosinensoße servieren; später wird es Teegelee geben.

4.
Wind kommt auf, Svens Kopf fühlt sich ungeschützt und kalt an. Er denkt an den Wirbel der Haare, der den Blick auf die Kopfhaut freilegt - starrt jemand auf seinen Hinterkopf?
Fotos werden herumgereicht; ein Mann hat sein Wohnzimmer genauso eingerichtet wie Fischbach. Sogar den gleichen Kamin hat er sich einbauen lassen, schlicht weiß, weit geschwungen. Fürs Foto hat er sich davorgesetzt, Rotweinglas in der einen Hand, Zigarre in der anderen, einen Corgi zu seinen Füßen.
Sven schaut das Foto an. In einer plötzlichen Vision sieht er die Doppelgänger Fischbachs im kommenden Jahr alle mit einem Corgi an der Leine - lauter Hände, die aus anthrazitfarbenen Ärmeln hervorlugen und Hundeleinen umklammern. Neben den Doppelgängern stehen die Corgis auf kurzen Beinen, fuchsfarbene Tiere mit weißen Flecken, die Ohren aufmerksam nach vorn gedreht. Sven reicht das Foto schnell weiter, weg damit.

Das Essen beginnt. Der Hecht riecht nach feuchter Erde. Gräten werden auf den Abfalltellern abgelegt, Bärte mit Servietten betupft. Tropfen von Rosinensoße hängen in den Haaren.
Zum Essen gibt es Kaffee, die meisten rühren ihn nicht an, trinken lieber Rotwein oder Bier direkt aus der Flasche. Bald sehen die Teilnehmer aus wie von Stromschlägen getroffen - die Haare wirr abstehend, die Gesichter kahl. Bärte liegen abgerissen auf den Tischen, sind von Wein und Bier durchtränkt. Wie will man mit diesen verdorbenen Bärten morgen zum Wettbewerb antreten, geht es Sven durch den Kopf.

Die Restehalde auf dem Tisch spricht zu dem, der in ihr lesen kann: Wo auf dem Teller die Gräten sauber zurückbleiben, kann nicht der wahre Fischbach gegessen haben; er mag keinen Hecht. Wo viele Rosinen übriggeblieben sind, ebenso wenig, er isst Rosinen lieber als irgendetwas sonst.
Hansen hat sein Gelee zu einer Formation aus fünf Wolken zerteilt, keine Rosine liegt mehr auf seinem Teller, den Fisch hat er verschmäht.
"Gib zu, dass du es bist", stößt einer hervor und packt Hansen an der Krawatte.
Der Däne beteuert, er sei Hansen, seine Stimme ist kläglich. Der Mann lässt von Hansen ab, greift einen anderen Doppelgänger an. Ringsum entlädt sich Wut, Sven sieht Menschen aufeinander losgehen. Einige Männer wollen der wahre Fischbach sein, andere nicht. Manche sind wütend, weil der wahre Fischbach sich nicht zu erkennen gibt - er ist es ihnen schuldig, sich zu zeigen! Ihr halbes Leben haben sie ihm gewidmet, er ist ihnen etwas schuldig!
Sven und Hansen bekommen Hiebe ab, der eine am Rücken, der andere am Kopf. Sie flüchten von der Tafel, schauen sich nicht um. Im Foyer des Hotels hetzen sie den Korridor entlang, rennen die Stufen hinauf zu ihren Zimmern. Das Fußgetrappel der Verfolger verliert sich unterwegs, auch Hansen ist irgendwann verschwunden.
Im Hotelzimmer stellt sich Sven ans Fenster, atmet durch. Da unten prügeln sie sich noch immer. Der Kaminbesitzer liegt in einer Rabatte, reibt sich die Hände, als ob er sie waschen würde. Sven dreht sich weg, müde geht er zum Bett hinüber und kann sich doch nicht hineinlegen. Die kahle Stelle am Hinterkopf, die mit dem Wirbel, würde noch platter gedrückt. Vielleicht setzt er sich aufs Sofa heute Nacht, vielleicht wird die Frisur so besser erhalten, der gezwirbelte Bart nicht zerzaust werden. Eine Bartbinde wollte er kaufen, schon seit drei Jahren will er das, vergisst es aber stets. Er setzt sich aufs Sofa, befühlt mit den Händen sein Gesicht. Die Falte über der Nasenwurzel fühlt sich rauh an. Seine Hand sinkt herab, der Kopf wird schwer. Im Halbschlaf tastet er nach der Jackentasche, ob der Augenbrauenstift noch da ist. Sven fährt mit dem Zeigefinger über die Spitze des Stifts, sie ist abgebrochen, keine Mine mehr zu ertasten, nur gesplittertes Holz, das in seinen Finger sticht.