Texte
Am Erker 44, Münster, September 2002
 

Manfred Etten
Stadteinwärts

Damals, als ich mit der Straßenbahn stadteinwärts fuhr, abends in der Dunkelheit, durch nie gesehene, fremde, mir ganz unbekannte Viertel, in der taghell erleuchteten Bahn, draußen tiefe Nacht und Regen, italienische Restaurants in auffallend großen Mengen, in Reihen hintereinander, und viele andere Gaststätten, strahlende Autohäuser, Fabrikhallen, geschwärzte Mauern, immer weiter, immer tiefer in die verregneten entlegenen Winkel hinein, die Haltestellen trugen seltsame Namen wie Gemarkungsgrenze, Zwergallee, Sauluspark, als ich um mein Augenlicht fürchtete oder wenigstens mit einem Nachlassen der Sehkraft rechnete, mit einem Überhandnehmen der Dunkelheit und Unschärfe, den Luftzug auf der Netzhaut spürte, erinnert ich mich, dass ich dort, in dieser Gegend, vor langer Zeit einmal gewohnt hatte... Als ich an einem anderen Tag ein zweites Mal dieselbe Strecke fuhr, früher Nachmittag im Sommer, sah und merkte ich nichts dergleichen, die Auswahl an Farben war groß, das gelbe Gras und Unkraut wucherte bis dicht an die Schienen heran, Lichtblitze flogen durch die Straßen, ich fühlte eine Taschenuhr in mir drinnen ticken, die Stationen nahm ich nicht wahr, die Haltestellen waren scheinbar abgeschafft, obwohl doch Menschen einstiegen und ausstiegen, Ehepaare mit Zwillingskinderwagen, orientalische Fußballspieler, die zusteigenden Fahrgäste wurden immer älter, nur ich allein blieb jung, blieb sitzen und fuhr weiter bis zum Hauptbahnhof, sprang aus der Straßenbahn, ging, nein rannte zum Zug, ohne dass mich einer daran hinderte.