Am Erker 79

Christian Schulteisz: Wense

 
Rezensionen

Christian Schulteisz: Wense
 

Allein auf weiter Flur
Andreas Heckmann

Hans Jürgen von der Wense wird fünfzig in diesem Roman, der mit 120 Seiten Novellenlänge hat. Doch nicht das ist die unerhörte Begebenheit, sondern das Verschwinden von Mutters Hund, den auch panische Nachsuche nicht mehr beibringt. Und der Krieg als allem zugrunde liegendes Skandalon.
Wense (1894-1966), der Mann der Emphase und der großen Pläne, der himmelstürmenden Märsche durchs südniedersächsische und nordhessische Mittelgebirge, der mitreißend strömenden Briefe, die Erkenntniswunder des Wanderns und die Unio mystica mit dem Wetter, mit der Historie von Wüstungen, Bergfrieden und Weilern besingen, Wense, der raunende Beschwörer des Genius Loci, sucht den Rauhaardackel seiner Mutter und findet ihn nicht. Wo ist Peter? Ob ausgehungerte Fremd- oder Zwangsarbeiter ihn am Spieß gebraten haben? Ob der Hundefänger ihm als unnützem Esser den Garaus gemacht hat? Ob das geliebte Tier, von Gören aus der Nachbarschaft von der Leine gebunden, sich nur verlaufen hat und nicht mehr zurückfindet?
Das Rätsel klärt sich nicht, aber wir erfahren von Wenses Anteilnahme an Peters Schicksal. Von Wense als bravem Sohn, der sich um eine alte Frau bemüht, die ihn als Kind nach dem frühen Tod des Vaters, der bei einer Parade vom Pferd gestürzt ist, vernachlässigt und in Internate gegeben hat, weil sie psychische Probleme hatte. Inzwischen ist sie gottlob gesund genug, um in Göttingen, dem Ort der Handlung, unauffällig zu leben und der Euthanasie zu entgehen. Wense indes, der Wetterbücher führte in Warnemünde Anfang der 1920er und als Vorarbeiten zu einer Weltgeschichte des Wetters Mappen angelegt hat, in denen er Notate etwa zu Wolken sammelte, Wense ist zum kriegswichtigen Einsatz an der Heimatfront abkommandiert und eicht Radiosonden mit Präzisionsthermometern. Sonden für den militärischen Wetterdienst. Für Hitlers Krieg. Nur auf Befehl zwar, doch ist er Vorgesetzter zweier Polinnen, die ihm ungeniert auf der Nase herumspielen (eine grenzwertige Darstellung, wenn man bedenkt, wie schlecht gerade "Ostarbeiter" behandelt wurden), und eines französischen Gefangenen, eines Physikers, der Wenses naturwissenschaftliche Expertise schätzt, seine Bildung und Umgangsformen, während Wense sich nicht zuletzt körperlich zu dem jungen Mann hingezogen fühlt.
Nein, ein germanischer Recke ist er nicht, sondern ein alternder Schwuler mit Rücken- und Autoritätsproblemen; mit Sehnsucht mehr nach Heddy Esche in Berlin als nach Hedwig Woermann in Wustrow; mit schwärmerischer Neigung zu Roger, dem gefangenen Offizier, zu Peter, sogar ein wenig zur Mutter. Und selbst mit Vitzthums, den Vermietern, kommt er aus, muss er auskommen. Und bleibt doch Himmelstürmer. Lässt sich nicht unterkriegen. Ist kein Biberkopf. Bleibt aufrecht.
Christian Schulteisz, *1985 in Gelnhausen, hat viele Jahre an diesem Debüt gearbeitet und Ausschnitte aus dem Manuskript schon Ende 2015 in Am Erker 70 veröffentlicht. Viele Lesungen waren für dieses Frühjahr mit dem Buch geplant, auch in Leipzig und Wien, dann kam Corona, und seine Lesung Anfang März in München blieb - neben Ausschnitten im WDR-Radio - fast die einzige bisher. Wie Wense den Protagonisten als allzumenschliches Mängelwesen beschreibt, das seine Würde bewahrt, weil es ihm gelingt, auch drunten, wo die schweren Ruder der Schiffe streifen, gedanklich bei den Sternen zu wohnen, sich an Büchern und Manuskripten zu begeistern, an Streifzügen durch die Natur und durch Bibliotheken, das ist kein bisschen erbaulich, sondern von großer, tragischer Komik und macht Wense zu einem Helden des Absurden. Mit wenig Aufwand ließe der Roman sich zum Hörspiel modeln oder zum absurden Theaterstück nicht Beckett'scher, sondern Camus'scher Provenienz: Wense als Sisyphos.
Dem Jubilar, der seinen rundesten Geburtstag feiert, fällt die Begeisterung indes zunehmend schwerer angesichts der Gravitationskräfte, die ringsum bleiern wirken. Doch Schulteisz lässt ihn obsiegen, trotz Schmerzen und großer Müdigkeit. Er tut es in einer Sprache, die den Wense'schen Enthusiasmus aufgreift, ohne ihn zu imitieren, zu parodieren oder zu karikieren. Nein, er nimmt die Emphase ernst und konfrontiert sie mit der Tragik des Weltgeschehens im Kleinen wie im Großen (auch wenn die Geschichte im bis Kriegsende unzerstörten Göttingen vergleichsweise glimpflich verläuft), aber es ist eine ganz nach innen gewandte Konfrontation, ein beharrliches Festhalten an großen Plänen, weitgespannten Projekten, am alten Irrsinn. Das ist unzeitgemäß, etwas lächerlich auch. Und doch auf stille Weise heroisch. Ohne dass Wense als Widerständler oder innerer Emigrant geschildert würde. Denn dafür ist er in seinem unbedingten Streben viel zu allein auf der Welt.

 

Christian Schulteisz: Wense. Roman. 128 Seiten. Berenberg. Berlin 2020. € 22,00.