Am Erker 65

Nuran David Calis: 'Der Mond ist unsere Sonne'

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Nuran David Calis
S. Fischer

 
Rezensionen
Nuran David Calis: Der Mond ist unsere Sonne
 

Letzte Ausfahrt Baumheide
Stefan Nienhaus

Seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gibt es in Deutschland etwas, das sich selbst erst einmal "Gastarbeiterliteratur" (Rafik Schami, Franco Biondi u. a. haben in ihren Publikationen stets auf der entlarvenden Bezeichnung als "Gastarbeiter" bestanden) nannte und das sich heute zu einer neuen Form umwandelt, die man mit dem klinisch-reinen Verwaltungsbegriff als "Literatur mit Migrationshintergrund" umschreiben könnte. Die Entwicklung, die sich in der Gesellschaft vollzogen hat, lässt sich - zum Glück – auch in der Literatur feststellen. Ging es früher vor allem um Geschichten eines Ausländers, der sich in der Fremde zurechtfinden muss, sich nach seiner Heimat sehnt, in der Kälte des "Gastlandes" seine Herkunft zu vergessen beginnt, der vielleicht zurückgeht, sich jedoch nun zu Hause ebenso fremd fühlt, so dürfte heute die Mehrheit der Menschen, die in Familien groß geworden sind, in denen vielleicht nur wenig oder gar kein Deutsch gesprochen wurde, die Heimat ihrer Eltern nur durch gelegentliche Verwandtenbesuche kennen. Überwiegend aufgewachsen sind sie nicht in den gemütlichen (und jetzt angesagten) Ecken Kreuzbergs oder Neuköllns, sondern in Gropiusstadt und in Köln-Kalk. Oder in einer Gegend Bielefelds, die den schön klingenden Namen "Baumheide" trägt, bei der es sich aber um Wohnblocks handelt, die man in den Siebzigern schnell hochgezogen hat, um eine Müllverbrennungs- und eine Kläranlage mit den dafür geeignet erscheinenden (Gast-)Arbeitern zu umgeben. Nuran David Calis erzählt von dieser Gegend, in die sich die Polizei nur reintraut, wenn es mal wieder einen Toten gegeben hat. Hier helfen seinem Helden keine Identitäten aus der Fremde mehr, die Wurzeln in irgendeinem fremden Land sind längst vertrocknet. Im Falle des Ich-Erzählers Alen sind sie allerdings auch durch die längst interkulturell determinierte Familiengeschichte besonders kompliziert zu ergraben: Sein Vater stammte aus einer armenischen Familie, die sich vor den Massakern in Anatolien nach Istanbul gerettet hatte, und seine Mutter ist jüdischer Herkunft. In Bielefeld hat man ohne Erfolg versucht, sich eine neue Existenz aufzubauen. Der doppelte Holocaustbezug ist im alltäglichen Überlebenskampf kein Thema, das Wenige, das Alen darüber weiß, musste er abgebrochenen Nebensätzen in den Unterhaltungen der Erwachsenen ablauschen. Seine Welt ist das ohnehin nicht und kann es auch nicht mehr werden. Eine Reise nach Armenien, zu der ihn schließlich, nachdem sich seine Situation in Baumheide katastrophal entwickelt, ein Onkel überreden kann, bestätigt ihm nur, dass die Lösung seiner Lebensprobleme nicht in der Annahme einer ihm schon viel zu fernen, fremden Identität liegen kann. Eine Antwort muss er dort finden, wo seine Welt liegt, in dem tristen Wohnblockviertel, wo der Türsteher einer Disko eine Respektsperson ist und der Drogenhändler eine Machtinstanz. Schließlich hilft ihm bei seiner Identitätssuche, dass es seiner Freundin, die aus einer ruhigen bürgerlichen Gegend, in die Leute "mit Migrationshintergrund" allenfalls mal als Gartenarbeiter gelangen, kommt, auch nicht besser geht. Auch sie will sich selbst finden und erwachsen werden, muss das alles hinter sich lassen und anderswo ihren eigenen Weg suchen. Nur hat sie es leichter, denn immerhin gibt das gut situierte Elternhaus eines mit: das Selbstvertrauen, sich davon radikal verabschieden zu können. Aber auch Alen hat es begriffen und widmet sich nicht etwa dem Studium ferner historischer Wurzeln, sondern seinem eigenen Problem, das Baumheide heißt und über das er ganz alleine hinwegkommen muss.
In den neunziger Jahren hatte Feridun Zaimoglu erstmals die an den Rändern der reichen Bürgergesellschaft lebenden Kinder der Einwanderer zu Wort kommen lassen; seine Erfindung der "Kanak Sprak" war ein poetisches Kunstprodukt (und verdient als solches auch zum Kanon der Gegenwartsliteratur zu gehören). Nuran David Calis lässt sein Erzähler-Ich nicht in einem künstlichen Jargon sprechen, sondern gesteht ihm einen Stil zu, der den zum Verstummen tendierenden, knappen und parataktischen Ghetto-Dialog, das wuterfüllte Stakkato der inneren Monologe benutzt, doch gleichzeitig auch eine deutsche Hochsprache als Teil der möglichen Sprachregister mit einschließt. Alens Sprache wird damit zum Zeichen dafür, dass ihm als einem der wenigen aus Baumheide eine Wahl offensteht: seine Identität in der Outlaw-Rolle des Gangsters zu finden oder aus dem Ghetto auszubrechen und anderswo die Chance einer neuen Selbstbestimmung zu ergreifen.

 
Nuran David Calis: Der Mond ist unsere Sonne. 206 Seiten. S. Fischer. Frankfurt am Main 2011. € 17,95.