| Dem öffentlichen Geschmack eine OhrfeigeVolker Frick
 Es ist an der Zeit, ein Buch zu preisen, das 
                Buch eines Autors, der den Rausch zum Medium seines Erzählens 
                gemacht hat: Wenedikt Jerofejews Aufzeichnungen eines Psychopathen. 
                Wenedikt Jerofejew wurde 1938 in Kirowsk bei Murmansk geboren, 
                studierte in Moskau, flog von der Uni, arbeitete als Monteur, 
                Kabelverleger, Heizer und in der Leergutannahme. Dann schrieb 
                er 1969 ein Buch mit dem Titel Die Reise nach Petuschki, 
                das zuerst 1973 in der israelischen Zeitschrift "Ami", 
                dann 1977 in Paris, 1978 in München und erst 1988 in Russland 
                erschien. Es war diese alkoholsatte russische road novel, mit 
                der Jerofejew international Aufmerksamkeit erregte. Es geht in 
                jenem Buch mit trockenem Humor um ein Tabuthema der damaligen 
                Sowjetunion: den Alkoholismus. Harry Rowohlt hat dieses Buch gemeinsam 
                mit dem Schauspieler Josef Bilous und Robert Gernhardt öffentlich 
                gelesen und auf vier CDs eingespielt. Er selbst sprach dann während 
                einer Lesung im vergangenen Jahr zwei Tage vor Weihnachten die 
                gewichtigen Worte aus "Ich bin kein Trinker. Ich bin Säufer." 
                Ganz bestimmt war das nur ein Zitat. Ganz ähnlich jenem, 
                welches der Protagonist der Reise äußert: "Man 
                kann ja schließlich auf die Meinung eines Menschen nichts 
                geben, der noch nicht dazu gekommen ist, sich den Kopf klar zu 
                trinken!"
 52-jährig verstarb Wenedikt Jerofejew 1990 an Kehlkopfkrebs. 
                Anfang dieses Jahres meldete die Nachrichtenagentur Interfax die 
                geplante Eröffnung eines Literaturmuseums zu Ehren von Jerofejew 
                in seiner Geburtsstadt.
 Jerofejew begann im Alter von 17 ein Tagebuch, nachdem er wegen 
                Bummelei und ständiger Trunkenheit von der Universität 
                relegiert wurde. Dieses Tagebuch ist nun unter dem Titel Aufzeichnungen 
                eines Psychopathen erschienen. Die Übersetzung von Thomas 
                Reschke gibt die sprachliche Drastik gut wieder, die editorische 
                Notiz von Sergej Gladkich allerdings ist bescheiden zu nennen, 
                zumal der Moskauer Vagrius Verlag, in dem die Originalausgabe 
                dieses Buches (Zapiski psikhopata) im Jahre 2000 erschien, im 
                selben Jahr das 120 Seiten starke Poem Die Reise nach Petuschki 
                erneut veröffentlichte, allerdings mit einem 450 Seiten umfassenden 
                Kommentar.
 Die Aufzeichnungen eines Psychopathen umfassen mehrere 
                Kapitel oder Zeitsegmente, denn, als Tagebuch deklariert, spielt 
                sich alles in dem Zeitraum vom 14. Oktober 1956 - 16. November 
                1957 ab. So sind diese Aufzeichnungen sicherlich in diesem Zeitfenster 
                entstanden, und so finden sich unter den Tagesdaten Dialoge, die 
                sich hie und da als ein Monolog herausstellen, und Prosahappen, 
                die als klare poetische Evokationen daherkommen. Subsumiert in 
                einem Beispiel: "8. Januar. Oh! Das Wort ist gefunden - Rudiment!! 
                Rudiment!"
 Unser Protagonist, der den Namen des Autors trägt, spricht 
                in Zungen. Selten ward das Delirium realer, erlebbarer. Es ist 
                ein Werk der Jugend, als solches ist es nicht schön, aber 
                verrrdammt noch mal gut. Die literarische Bildung dieses jugendlichen 
                Autors ist augenfällig. Immerhin steht ein Drittel der Fußnoten 
                des Übersetzers in einem literaturhistorischen Kontext oder 
                verweist auf russische Autoren, deren Namen einem meist unbekannt 
                sind.
 Eine immens unterhaltsame Lektüre bietet Jerofejew mit diesen 
                Aufzeichnungen eines Psychopathen.Wenn "die geschlechtliche 
                Liebe" als "eine gewöhnliche physiologische Entleerung" 
                gefasst wird, dann im Sinne von Swinburnes Limerickzeile "and 
                united the organs they pissed with." Mitnichten bleibt die 
                Lyrik verschont. "Lyrik als Frucht des Drangs eines Menschen, 
                der nicht weiß, wo er sich ausscheißen soll!"
 Die umnachteten Exkurse dieser Aufzeichnungen gemahnen an Oblomow, 
                diesen immer wieder poetisierten Helden des Müßiggangs. 
                Tief kann man nicht fallen, wenn man im Bett liegt. Die Columna 
                vertebralis in Eis, und eine Frau in einem roten Kleid. Weiße 
                Mäuse im Schnee. Auf der Suche nach seinem Stil hat der Autor 
                einen klugen Titel für dieses Buch gewählt. Als Jugendlicher 
                die literarische Form des Tagebuchs für ein Erstlingswerk 
                zu wählen, ist schlicht der Realität geschuldet, angesichts 
                staatlicher Willkür einfach nur spitzbübisch. Die Authentifizierung 
                gelingt eher über die mitunter rohe sprachliche Schilderung 
                eben dieser Realität als einer chaotischen. "Meine Herren, 
                sind Sie nicht mal dem Typ von Menschen begegnet, die bewusst 
                dem Glück davonlaufen und sich selbst zu Leiden verurteilen, 
                Menschen, denen der Gedanke, dass nur ihr bewusstes Tun sie zu 
                Leidenden gemacht hat und dass sie glücklich wären, 
                wenn sie sich nicht selbst vorsorglich des Glücks beraubt 
                hätten, fast physischen Genuss bereitet?" Man muss kein 
                Zyniker sein, um dies als rhetorische Frage zu verstehen, zumal 
                die Lektüre dieses Werkes ein, wie so gesagt wird, wahrer 
                Genuss ist.
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