In unruhigen Zeiten hat der Eskapismus Konjunktur. Während junge Frauen von erotischen Abenteuern mit Drachen und anderen Fabelwesen träumen, verschlingen ihre reiferen Geschlechtsgenossinnen blutrünstige Thriller aus den Literaturwerkstätten des Grauens. Das legt zumindest ein Blick auf die aktuelle Bestsellerliste nahe. Doch abseits des Neuerscheinungstrubels scheint es ein Bedürfnis nach weniger aufregender, aber dafür kultivierterer Lektüre zu geben, wie sie die Detektivromane des so genannten "Goldenen Zeitalters" versprechen. Die gerne als Häkelkrimis verspotteten Klassiker des Genres erfreuen sich bis heute reger Nachfrage. Und sind deshalb immer wieder für Neuauflagen, gerne in nostalgieträchtiger Aufmachung, gut. So liegt der 1931 erstmals erschienene Schmöker Look to the Lady von Margery Allingham, vor 35 Jahren unter dem Titel Die Hüter des Kelchs bei Diogenes erschienen, nun als Tödliches Erbe neu im Verlag Klett-Cotta vor. Eine andere deutsche Fassung (Achten Sie auf diese Dame) war bereits 1968 als Goldmann Taschenbuch erhältlich. Es handelt sich um das dritte der zahlreichen Abenteuer eines adeligen Brillenträgers mit leicht debilem Gesichtsausdruck und scharfem Verstand, der unter dem Namen Albert Campion Schurken jeden Kalibers die Stirn bietet. Und wie die anderen Bände der Reihe ist auch Tödliches Erbe eine fabelhafte, mit großem Sprachwitz erzählte Albernheit. Oft sind es mysteriöse Vorgänge in den prunkvollen Behausungen skurriler Oberschichtfamilien, die Campion auf den Plan rufen, der es in der Folge mit global operierenden Verbrecherorganisationen, aber auch mit emotional herausgeforderten Einzeltätern zu tun bekommt, spektakuläre Actionszenen inbegriffen. Das ist ein großes Lesevergnügen für alle, die sich freuen, wenn selbst in Momenten höchster Gefahr für Leib und Leben die sprachliche Contenance gewahrt wird und die Figuren einander mit "alter Knabe" anreden.
Es gibt natürlich gute Gründe, literarische Spielereien dieser Art für hoffnungslos verstaubt zu halten. Wer es ungemütlicher möchte, sollte lieber zu einem Thriller wie Von Schafen und Wölfen greifen, in dem Achim Zons von einem amerikanischen Ex-Präsidenten erzählt, der sich ein zweites Mal wählen lassen will und deshalb unbedingt verhindern muss, dass bestimmte Informationen über seinen Gesundheitszustand, die sich im Besitz einer deutschen Tageszeitung befinden, an die Öffentlichkeit gelangen. Der Mann ist skrupellos in der Wahl seiner Mittel, deshalb ist die Entscheidung, ob die Redaktion die Chance zu einem journalistischen Coup nutzt, nicht nur eine Frage des wirtschaftlichen Überlebens für das angeschlagene Blatt.
Zons, lange Jahre Redakteur der Süddeutschen Zeitung, bevor er sich als Autor politischer Spannungsliteratur einen Namen machte, kennt das Milieu, über das er schreibt. Und er versteht es, eine Handlung zu konstruieren, die einschlägige Strukturelemente des Thrillers und einen hohen Wiedererkennungswert effektvoll kombiniert. Die rasante Erzählweise – kurze Kapitel, schnelle Szenenwechsel – tut ein Übriges. Romane, die sich so nah an der Wirklichkeit bewegen, laufen natürlich immer Gefahr, von ihr überholt zu werden. Was in diesem Fall leider eine realistische Option ist.
Auch Johannes Groschupfs vierter Berlin-Thriller Skin City ist ein sehr gegenwärtiger Roman von bezwingendem Alltagsrealismus, ohne sich darin zu erschöpfen. Im Sommer 2024 ist eine georgische Einbrecherbande in den wohlhabenden Vierteln der Stadt unterwegs. Systematisch werden die abwesenden Villenbewohner um Bargeld, Schmuck und andere Wertsachen erleichtert. "Muschi" sagen die diszipliniert vorgehenden Auftragsdiebe, wenn ihren Enteignungsaktionen nur ein Gartenzaun und eine leicht zu knackende Terrassentür im Wege sind. Während also Toma, Koba und Levant in einem alten Mercedes die Vororte abfahren, ist Jacques Lippold bemüht, sich ein neues Leben im Luxus aufzubauen. Das ist dem gerade aus der Haft entlassenen Umsatzsteuerbetrüger schon einmal gelungen. Lippold ist charmant und erfindungsreich, die beste Voraussetzung, reiche Menschen auf elegante Weise auszunehmen. Und zwar mittels eines ausgeklügelten Kunstschwindels, der wahrscheinlich nicht einmal strafbar ist. Zum Gentleman reicht es trotzdem nicht. Denn Lippold ist auch rachsüchtig, leicht reizbar und brutal. Was ihm letztendlich zum Verhängnis wird. Denn er bekommt es mit Romina Winter zu tun, der bereits im Vorgängerroman Die Stunde der Hyänen ermittelnden Kriminalpolizistin aus einer Roma-Familie. Wie Johannes Groschupf diese Handlungsfäden fast beiläufig zusammenführt, ist große Erzählkunst. Und zwar bis ins Detail. Selten bekommt man in deutschsprachiger Spannungsprosa Dialoge dieser Qualität zu lesen. Hier hat jemand von Meistern des Genres wie Elmore Leonard und George V. Higgins, dessen deutscher Übersetzer in der Danksagung ausdrücklich erwähnt wird, gelernt, ohne sie zu kopieren. Wer wissen will, wie traditionsbewusste Krimikunst auf der Höhe der Zeit aussehen kann, muss Johannes Groschupf lesen. |