Am Erker 81

Céleste Albaret: Monsieur Proust

 
Rezensionen

Céleste Albaret: Monsieur Proust
 

Zwei Einsame
Gisela Trahms

Da kommt also 1913 eine junge, frisch verheiratete Frau mit dem schönen Namen Céleste ("die Himmlische") aus der südfranzösischen Provinz nach Paris, wo ihr Mann mit einem prächtigen roten Taxi seine Stammkunden fährt. Einer heißt Marcel Proust, ein wohlhabender, gesundheitlich angeschlagener Schriftsteller, der gerade den ersten Band eines umfangreichen Romanprojekts auf eigene Kosten hat drucken lassen. Céleste erklärt sich bereit, das Buch an Freunde, Bekannte und Kritiker auszutragen, die es lesen und rühmen sollen, und lernt auf diese Weise Paris kennen. Später wird sie für würdig erachtet, dem Autor den morgendlichen Café au lait samt Croissants zu servieren. Keine große Sache? Weit gefehlt! Es handelt sich um eine minutiös festgelegte, schweigend zu vollziehende, solipsistische Zeremonie. Der Autor liegt im Bett und lebt nach eigener Uhr: Sein "morgendlich" heißt bei gewöhnlichen Menschen vier Uhr nachmittags, "abends" beginnt frühestens um zehn. Zu dieser Stunde empfängt er seltene Besucher oder beginnt mit den Vorbereitungen zum Ausgehen, wobei er zwanzig Handtücher verbraucht. Manchmal gibt er ein "kleines" Souper für Freunde im Hotel Ritz, kommt gegen vier oder sechs Uhr früh nach Hause, trägt aber keinen Schlüssel bei sich, sondern erwartet von Céleste, dass sie aufbleibt und ihn einlässt und vielleicht, wenn er Lust hat zu reden, seine Berichte über den Verlauf der Zusammenkunft anhört. Sie hat inzwischen sein gegen den Lärm mit Korkplatten gedämpftes Schlafzimmer und das Bad geputzt und gelüftet, und wenn er sich endlich ins Bett verabschiedet, darf auch sie ein paar Stunden schlafen, aber nicht zu lang, denn eine umfangreiche Aufgabenliste wartet in der "üblichen" Zeit auf Erledigung: Anrufe tätigen, Bestelltes abholen, die Wäschepflege organisieren, die Überweisungen koordinieren, ach, man kann es gar nicht alles aufzählen, dazu immer horchen, ob der Herr nicht läutet, und von freien Tagen oder auch nur Stunden ist nie die Rede.
Reine Sklaverei also.
Doch Céleste tut sie sich an, acht Jahre lang, bis zu Prousts Tod 1922. Danach verlässt sie die glanzvollen Kreise, in denen Monsieur Proust verkehrte, und übernimmt mit ihrem Mann Odilon und der Tochter Odile ein kleines Hotel. Später, nach Odilons Tod 1960, zieht sie mit ihrer Schwester ins Örtchen Monfort-l'Amaury und hütet dort das kleine Museum, das in Maurice Ravels Haus eingerichtet wurde. Sie stirbt 1984, zweiundneunzig Jahre alt.
Wie hätte der asthmakranke, geschwächte und hochneurotische Proust seine letzten acht Jahre durchhalten können ohne sie? Er schrieb die Recherche im Bett und mit der Hand, tausende Seiten; sie besorgte seinen Alltag, war die geduldigste Zuhörerin und eine der verständigsten, der er auch diktierte. Die Literatur als Tyrannin frisst ihren Schöpfer, das ist bekannt, aber sie benagt auch seinen Lebens- und Dienstmenschen. Sie schenkt dem Autor Ruhm, dem Dienstmenschen nur begrenzt, dafür lässt sie ihn am Leben.
Céleste schwieg ein halbes Jahrhundert, bis in den Siebziger Jahren ein kluger Journalist und Proust-Kenner namens Georges Belmont ihr Vertrauen fand, über fünf Monate ein Siebzig-Stunden-Interview mit ihr führte und daraus ein Buch mit dem schönen Titel Monsieur Proust komponierte. Milde chronologisch, aber nach Themen geordnet, zeichnet es die gemeinsamen Jahre nach und kreist um des Autors Ansprüche, Probleme und Gefühle, die Céleste teilte, löste und in die Tat umsetzte. Wer fließend Französisch spricht, kann ihr auf YouTube zuhören: https://youtu.be/6pGQDba7I04
Sie sagt: "Mais oui, j'étais sa prisonnière." (Ich war seine Gefangene.) Aber sie war es aus Faszination: "Was immer ich tat, ich tat es gleichsam jubilierend, wie ein Vogel, der sich von einem Ast auf den anderen schwingt. Es kam vor, dass ich todmüde war, aber ich spürte die Müdigkeit nicht, denn ich langweilte mich keine Sekunde … Es war immer sozusagen ein Mietvertrag, der stillschweigend verlängert wurde." Céleste besaß keine Bildung, las keine Bücher, hatte auf dem Bauernhof ihrer Familie gelebt und fühlte sich fremd in Paris, besonders als 1914 der Krieg ausbrach und ihr Mann sofort eingezogen wurde.
Zwei Einsame also, beide mit klarem Bewusstsein ihrer selbst, ihres Rangs, ihrer Fähigkeiten, ihrer Beziehung. Sie liebte und bewunderte ihn und wusste, je länger desto überzeugter, was für ein außergewöhnlicher Mensch er war. Was er verlangte, brauchte er, um sein Werk zu schaffen, das rechtfertigte noch die krudesten Wünsche. Was sie über ihn erzählt, soll sein Genie nicht auf eine banale Häuslichkeit reduzieren. Sie feiert ihn, nicht schwärmerisch, sondern handfest, ohne Leugnung seiner Schwächen und Ticks. Auf diese Weise kann nur ein selbstbewusster und spontaner Mensch über einen anderen sprechen. Anfangs nannte Proust sie "Madame", dagegen verwahrte sie sich. Er sollte sie beim Vornamen nennen, was sowohl Vertrautheit wie Abstand signalisiert.
Das Buch erschien 1973 (deutsch 1974) und wurde auch bei uns ein Erfolg. Es brachte Céleste Albaret die berechtigte Auszeichnung "Commandeur de l'Ordre des Arts et des Lettres" ein. Zu Prousts 150. Geburtstag hat es der Schweizer Kampa-Verlag, in der einfühlsamen Übersetzung von Margaret Carroux, mit Illustrationen versehen und hübsch gewandet, noch einmal aufgelegt, was ein nachdrückliches und herzliches Merci! verdient.

 

Céleste Albaret: Monsieur Proust. Erinnerungen. Aufgezeichnet von Georges Belmont. Aus dem Französischen von Margaret Carroux. 540 Seiten. Kampa. Zürich 2021. € 34,00.