Am Erker 72

Jörg Sundermeier: Die Sonnenallee

 
Rezensionen
Jörg Sundermeier: Die Sonnenallee
 

Mit Jörg Sundermeier im Rudelbus
Andreas Heckmann

Zu einer eigenwilligen Sightseeing-Tour lädt Verbrecher-Verleger Sundermeier Berliner und Berlin-Besucher in Die Sonnenallee ein. Zwar beginnt die Reise am Hauptbahnhof, aber nicht im Doppelstockbus mit Sonnendeck, der die Highlights mit Moderation vom Band abgrast, sondern im M41er, einem Gelenkbus im Linienverkehr, der von den Fahrgästen Geduld und Strapazierfähigkeit verlangt, denn es geht nach Neukölln, wo es am neuköllnigsten ist: die Sonnenallee entlang, die am Hermannplatz beginnt und deren kürzeres, von Thomas Brussig verewigtes Ende in Treptow liegt.
Als "Bussitztraveller" ist Sundermeier unterwegs, doch dabei bleibt es nicht, denn der Schaulustige mutiert immer wieder zum Cicerone, paart also den neugierigen Blick nach draußen und in den Gang des Busses mit den ausgebufften Kommentaren eines altgelernten Neuköllners, der die rasanten Veränderungen seines Viertels, die mit dem Begriff "Gentrifizierung" weniger benannt als zugedeckt werden, erlebt und durchlitten hat. So kommen wir einerseits in den Genuss leicht ungläubig staunender Schilderungen, dass es beim 41er immer wieder zur Bildung von Busrudeln kommt, bei denen dennoch alle Fahrgäste nicht in den leeren dritten, sondern in den überfüllten ersten Bus streben und dabei noch den vierten Kinderwagen reinquetschen wollen (Beobachtungen, die man, freilich ohne Rudelbusse, auch in Bremerhaven mit seiner hohen Rollator- und Rollstuhldichte zuhauf machen kann), um gleich darauf nicht so sehr vom Verschwinden einzelner Kneipen, sondern vom Ausbleiben ihres Publikums zu erfahren, das in den Trinkerhimmel aufgefahren sein mag oder durch Sanierungen samt Mieterhöhung und/oder Hipsterflut verdrängt wurde oder nur noch in den eigenen vier Wänden seinem Laster frönt (auch das für Bremerhaven-Lehe nicht untypisch, bis auf die Hipster natürlich). Vom Zusammen- und Nebeneinanderleben vieler Nationen erfährt man, von Armut und Würde, und es gibt einen längeren Exkurs zur Geschichte der Sonnenallee, die bei ihrer Entstehung Ende des 19. Jahrhunderts noch zu Großem bestimmt war und daher Kaiser-Friedrich-Straße hieß.
Sehr charmant, dass das Buch zwar aus intimer Kenntnis Neuköllns und seiner Geschichte sowie der Mentalität seiner Bewohner verfasst ist, passagenweise aber mit heißer Nadel gestrickt wurde und mitunter so kantig wirkt wie die High-Deck-Siedlung. Fünf Tage vor Abgabetermin habe er den Text nicht mal zur Hälfte fertig gehabt, berichtete der Autor bei der Buchpräsentation im September im "Heimathafen Neukölln", dann aber von seinem Lektor erfahren, es solle doppelt so lang werden wie angenommen. Die Tour de Force, auf die Sundermeier daraufhin gehen musste, hat dem Buch nicht geschadet, sondern ihm partiell - Siri sei Dank? - eher den Reiz der Mündlichkeit beschert. Bei jemandem, der tendenziell druckreif formuliert, schadet das wenig, und dass nicht jeder Gedanke schlüssig wirkt, ermuntert zum Nachdenken. Hier sei beispielsweise eine sich aus dem Studium des Fahrplans ergebende Überlegung zur rätselhaften Busrudel-Bildung mitgeteilt: Zwar beginnt die Reise am Hauptbahnhof im Zehn-Minuten-Takt, doch schon ab Hallesches Tor gilt Fünf-Minuten-Takt, und vom Hermannplatz geht's alle zweieinhalb Minuten weiter: Wäre es da nicht erstaunlich, wenn sich auf der Sonnenallee keine Busrudel bilden würden?

 

Jörg Sundermeier: Die Sonnenallee. 142 Seiten. be.bra. Berlin 2016. € 10,00.