Am Erker 63

Jonas-Philipp Dallmann: 'Notschek'

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Jonas-Philipp Dallmann
Luftschacht

 
Rezensionen
Jonas-Philipp Dallmann: Notschek
 

Das "gute Leben"
Rita König

Es beginnt ganz harmlos: Ein kinderloses Ehepaar nimmt einen Gast auf, Notschek. Vorübergehend, interimistisch, soll er die Mansarde nutzen dürfen.
Die Geschichte wird dem Leser vom Hausherrn erzählt, einem Kleinbürger, der sich in den Meldungen der unterschiedlichen Zeitungsblätter nicht zurechtfindet, der die Ordnung des Alltags auf den Kopf gestellt sieht von einer Ausgangssperre, die die Tagstunden betrifft, und deshalb auch froh ist, jemanden zu haben wie Notschek, der ihm das alles erklärt und ihn führt. Er rebelliert nicht, er fügt sich und wartet darauf, dass jemand für ihn entscheidet – was dann auch geschieht, allerdings ohne dass der Hausherr das überblickt.
Der Ort der Handlung in Jonas-Philipp Dallmanns Debütroman Notschek bleibt ebenso unklar wie die genaue Zeit des Geschehens – und gerade das führt dazu, sich Orte überall vorstellen zu können. Allerdings verweist die Sprache auf das frühe 20. Jahrhundert. Von Notscheks Kammgarnmantel über die Gummiringe der Einweckgläser bis zum Zeichnen der Unterwäsche mit Initialen werden Dinge sehr detailliert beschrieben und Begriffe wiederholt; scheinbar unwichtige Nebensächlichkeiten, die weder die Handlung vorantreiben noch den Hintergrund erhellen. In indirekter Erzählrede, im Präsens, konzentriert sich Jonas-Philipp Dallmann auf drei Personen, dann und wann ergänzt durch Nebenfiguren wie Maibaum, der Nachbar, und Tomek, der Bekannte Notscheks aus der Oststadt.
Im letzten Viertel des Romans ziehen Notschek, der Hausherr und dessen Frau Maria in die Oststadt zu Tomek, auch Maibaum taucht wieder auf. Nun ändert sich das Erzähltempo; detaillierte Beschreibungen werden an Handlungen gekoppelt, aus denen Spannung entsteht, ohne zu psychologisieren. Der Hausherr wird dem Schreibblock zugeteilt und tippt dort Texte ab, bei denen es nur darauf ankommt, sie fehlerfrei zu übertragen. Statt: "Unwissenheit ist Stärke" prangt hier: "Wahrheit ist Genauigkeit" in großen Lettern an der Wand. "Gefesselt bist du frei" anstelle von "Freiheit ist Sklaverei" sowie das Wahrheitsministerium verraten die Anleihen des Autors bei George Orwell.
Wie nebenbei erfährt der Leser von Tätigkeiten, die nur beschäftigen, von Nachrichten, die verwirren statt zu informieren. Der Hausherr konzentriert sich einzig darauf, die Ansprüche seiner Vorgesetzten zu erfüllen. Auf einem höheren Posten angelangt, blickt er auf diejenigen herab, die ungeschult ihre Texte abfassen. Jene Texte, die er nun in die gefällige Wahrheit umzuschreiben hat:
"Zwar berichten sie ungenau und fehlerhaft, aber es sind doch Fehler, die erkannt und ausgemerzt werden können, da sie absichtslos unterlaufen, da es sich also nicht um solche handelt, die auf der Lüge beruhen. Geschultere Beobachter, könnte man sagen, wären wohl zu fehlerloseren Schriften fähig - fähig aber auch zu unerkennbaren Lügen, und eine solche Befähigung ist dem Schreibblock natürlich ganz unerwünscht."
Wenn der Erzähler sich eigene Gedanken erlaubt wie hier, sind sie bereits getränkt von dem, was er glauben soll - so sehr, dass er nicht einmal bemerkt, welch ungeheuerlichen Vorgang er gerade bearbeitet. Das ist das Besondere an diesem Roman. Die Orwellschen Muster, die historischen Ereignisse aus der deutschen Geschichte sind grob gezeichnete Anspielungen, die den Text surrealer erscheinen lassen, als er ist. Der kleine Mann, der befohlene Ruhe und Ordnung für sein privates Glück hält, für das "gute Leben", der nachbetet und nicht nachdenkt - das ist die wahre Apokalypse, die in diesem Debüt in kunstvoller Beiläufigkeit aufgezeigt wird.

 
Jonas-Philipp Dallmann: Notschek. Roman. 295 Seiten. Luftschacht. Wien 2011. € 21,40.