Am Erker 59

Hans Dieter Schäfer: 'Das gespaltene Bewußtsein (Neuausgabe)'

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Wallstein
Hans Dieter Schäfer

 
Rezensionen
Hans Dieter Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein
 

Verdrängtes Alltagsleben unter Hitler
Gernot Wolz

Vor über einem Vierteljahrhundert veröffentlichte der Regensburger Germanist und Lyriker Hans Dieter Schäfer seine damals großes Aufsehen erregende Studie über die Alltagskultur im Nationalsozialismus. Jetzt ist Das gespaltene Bewußtsein, erweitert um zwei Drittel zusätzlicher Texte, neu erschienen. Hinzugekommen ist u. a. ein Bericht über Berlin im Bombenkrieg, der sowohl die Versteppung der Reichshauptstadt wie die Auflösung jeglicher Moral durch Prostitution, Kriminalität und Schleichhandel dokumentiert. Einen weiteren Höhepunkt bildet die Darstellung des tragischen Scheiterns von Alfred Döblin und Paul Celan, die mit Krankheit auf die fehlende Trauer in der deutschen Nachkriegsgesellschaft reagierten. Das Nachwort beschreibt schließlich Ludwig Erhards Beratertätigkeit in Hitlers Kriegswirtschaft; wie Tausende anderer unpolitischer Experten nach dem Krieg hatte er kein schlechtes Gewissen, sich an der wissenschaftlich organisierten Ausbeutung der eroberten Gebiete beteiligt zu haben. Zudem kommentiert Schäfer die aufgedeckten NS-Mitgliedschaften von Prominenten und erläutert den Gebrauch des Begriffs "gespaltenes Bewußtsein" durch den Altkanzler Helmut Schmidt. So wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich auch heute noch belastet ist, weil die Trauerrituale ohne autobiographisches Gedächtnis und mit einem Ausweichen vor jeder Spielart von Dialog inszeniert waren. Die Veranstaltungen im Zyklus der jährlichen Gedenktage mit ihren gebetsmühlenhaften, aber doch abstrakten Verweisen auf die "Einzigartigkeit" und "Unvergleichlichkeit der Verbrechen in deutschem Namen" ermöglichten es, über die kontaminierten Lebensläufe hinwegzusehen.
Während die Hitlerzeit-Bestseller der letzten Jahre mit gängigen monokausalen Erklärungsversuchen aufwarteten - Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker, Götz Alys Hitlers Volksstaat -, engt Schäfer seine Perspektive nicht auf Antisemitismus oder die NS-Wohlfahrtsdiktatur ein, sondern weitet sie aus auf sozial-psychologische Konstanten wie die Mobilität des beruflichen Aufstiegs und das moderne Mediensystem der Nazis, das durch widersprüchliche Botschaften die Menschen um einen festen Standpunkt brachte. Kontinuitäten werden sichtbar, gerade in ihrer Leugnung. Wenn Hitler 1933 schon eine Stunde Null hatte, rief man 1945 von neuem eine Stunde Null aus, alles begann scheinbar von vorne.
Für die Gespaltenheit des Alltags, die Schäfer für das Wahndenken und das fragmentarische Bewusstsein verantwortlich macht, sei folgende Textpassage zitiert:
"Vom 25. bis 30. September 1937 wurde [...] am Kurfürstendamm eine Marlene-Dietrich-Woche veranstaltet. Während Mussolini die Via triumphalis entlangfuhr, konnte man in die Welt des Films Shanghai-Express eintreten, um anschließend in der Femina-Bar Teddy Stauffer zu applaudieren, der mit Swingin' for the King [...] die kriegerisch-völkischen Absichten des Hitler-Staates verleugnete." Da die Zensur selten auf allgemeinen Gesetzen basierte, sondern persönliche ad-hoc-Entscheidungen waren, konnte die englische Swing-Kapelle Jack Hylton in Berlin auf dem Presseball spielen. Selbst "Goebbels und Göring tanzten zu den 'negroiden Auswüchsen' der [...] Kapelle."
Auf solch überraschende Gleichzeitigkeiten stieß Schäfer durch minutiöses Quellenstudium. Systematisch hatte er über ein Jahr lang das "Berliner Tageblatt" und die "Deutsche Allgemeine Zeitung" durchgearbeitet. Bei deren Lektüre entdeckte er eine ganz andere Welt, die für die meisten Volksgenossen nicht so dunkel eingefärbt war. Zwischen nationalsozialistischer Ideologie und Praxis tat sich eine Kluft auf. Die Scheinwelten und "staatsfreien Sphären" samt ihren ablenkenden Zerstreuungswerten bestanden bis Kriegsende fort, täuschten über die reale Lage hinweg: Obwohl die Russen im Februar 1945 schon an der Oder standen, fanden noch Fußballspiele und Modenschauen statt. Die Deutschen stahlen sich nach dem Krieg aus der Verantwortung, indem sie das ganze Dritte Reich zu einem gigantischen KZ für alle umstilisierten.
Als sprechendes Beispiel erweisen sich dabei die beiden Literaturnobelpreisträger Grass und Böll. Indem Grass den Deutschen im Jahr 1989 radikal das Recht auf einen Nationalstaat absprach, vertuschte er seine eigenen Verstrickungen in der Waffen-SS. Ebenso gespalten war Böll. Er bastelte jahrzehntelang an seiner Karriere als moralisches Gewissen der Nation und Pazifist. Wie Grass jedoch hatte er bis zum Schluss den deutschen Sieg gewünscht und erwartet. In den Briefen an die Ehefrau und Familie sah er den Krieg als "das absolute Elend", wollte aber an der Front den Kampf genießen: "Ich finde [...] diese Kraft, alle Kultur und Zivilisation abzuwerfen und ganz, ganz neu zu beginnen, hat etwas berauschend Absolutes [...] - und es muss doch herrlich sein, in diese unendliche Weite Russlands vorzustoßen." Dann schwärmte er von dem "tollen Vergnügen", dass mal ein Engländer "vor die Flinte fliegt, so richtig zum Abknallen; dann gibt es Extraurlaub." Ihnen wie den allermeisten Zeitgenossen war ein Denken in Zusammenhängen nicht mehr möglich. Wahn und Wirklichkeitsverlust ließen die Niederlage als "Zusammenbruch" erleben. Und so bestätigen beide Autoren Schäfers zentralen Befund: "Die Befreiung von der Hitler-Diktatur wurde seelisch nicht gewollt."
Man steht verblüfft vor der Fülle des auch mit zahlreichen Abbildungen beglaubigten und veranschaulichten Quellenmaterials. Die kunstvoll konzentrierte Sprache, die klaren Analysen Schäfers führen den Leser auf geordneten Pfaden durch den Irrgarten der Geschichte. Bücher dieser Art erscheinen nicht alle Jahre, und wir stehen hier dankbar vor dem Lebenswerk eines Wissenschaftlers, der immer auch Schriftsteller ist. Es ist keine müßige Spekulation, vielmehr Gewissheit: Generationen künftiger Forscher wird dieses Buch einmal als Schlaglicht durch die dunkelste Epoche Deutschlands dienen.

 
Hans Dieter Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein. Vom Dritten Reich bis zu den langen Fünfziger Jahren. Erweiterte Neuausgabe. 498 Seiten. Wallstein. Göttingen 2009. € 34.00.