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Frankfurter Verlagsanstalt
Minka Pradelski

 
Rezensionen

Minka Pradelski: Und da kam Frau Kugelmann
 

Eine eigene Geschichte
Silvie Horch

Für ihr Roman-Debüt hat sich die 1947 geborene Soziologin Minka Pradelski ein Sujet gesucht, das ihr aus persönlicher und wissenschaftlicher Perspektive sehr vertraut ist. Als Kind von Holocaust-Überlebenden und durch ihre Forschungen zu "Nachwirkungen massiver Traumatisierungen bei jüdischen Überlebenden der NS-Zeit" weiß sie um das Schweigen und die Weitergabe von Traumata zwischen den Generationen - und webt ihr Wissen um gebrochene Identitäten und psychopathologische Symptome in eine mitunter märchenhaft anmutende Geschichte ein.
Alles beginnt mit einer Erbschaft. Die Ich-Erzählerin Zippy Silberberg entschließt sich, das von Tante Halina vermachte Fischbesteck persönlich in Tel Aviv abzuholen. Im Hotel wird sie von einer alten Dame angesprochen, die sich als Frau Kugelmann vorstellt und unaufgefordert anfängt, von ihrer Vergangenheit zu erzählen. "Ich muss erzählen, sonst stirbt meine Stadt", rechtfertigt Frau Kugelmann ihren Überfall, und so ist es: In ihren mit fremden Namen und Bräuchen und wundersamen Begebenheiten gespickten Erzählungen, die etwa die Hälfte des Buches ausmachen, lässt die alte Frau die jüdische Kleinstadt Bendzin in Oberschlesien wieder auferstehen.
Zippy ist zunächst genervt. Schließlich ist sie nach Tel Aviv gekommen, weil sie sich vom Empfang des Besteckkoffers persönliches Glück und das baldige Finden eines Ehemanns versprochen hat. Einst war sie ihren Eltern "Ersatz für die verlorene eigene Familie", jetzt scheint sie sich mit der Gründung einer Familie eine eigene Geschichte schaffen zu wollen. Denn über die Vergangenheit ihrer eigenen Eltern weiß sie nichts. Als Kind Überlebender wuchs Zippy in einem Umfeld auf, das "bar jeglicher Erinnerung" war: Es gab keine Erinnerungsstücke, keine Familiengeschichten. Tatsächlich müssen die Eltern voll von grausamen Erinnerungen gewesen sein, wofür auch die enorme overprotection Zippys spricht. Auf das eisige Schweigen ihres Vaters reagiert sie als Kind mit einer Vorliebe für kalte Speisen, die sich in eine bizarre Tiefkühlkost-Sucht steigert. Und sie bezieht kein Hotelzimmer, ohne den Fluchtweg inspiziert zu haben. (Ärgerlich nur, dass Autorin und Lektorat hier ein 'Regiefehler' unterlaufen ist, denn Zippy macht diese Erkundung im Tel Aviver Hotel erst nach der ersten Übernachtung.)
Wie sehr die verklärt-romantischen Episoden der Frau Kugelmann über den Bendziner Alltag zwischen Juden und Christen, Ärzten und Bettlern, Kindern und Eltern unsere Zippy aufwühlen, zeigt sich, als sie sich eines Nachts über das Eisfach der Hotelküche hermacht: "Schluchzend sperre ich die Gefriertruhe auf und fege mit einer einzigen Handbewegung alle Pakete aus dem Regal. ... Kaum noch Herr meiner Sinne, zerreiße ich die Pakete mit zittrigen Händen und schütte mir den Inhalt über den Kopf, fange mit dem Mund Bohnen, Spinat oder ein Maiskörnchen auf." Dies ist leider nicht die einzige poetische Unmäßigkeit im Roman, denn Zippy dauercampiert wenig später mit Frau Kugelmann in ihrem Hotelzimmer, um ihre Wissenslücken über das jüdische Leben vor dem Krieg zu schließen. Nachdem Zippy den Wert Frau Kugelmanns als "Stimme gegen das Vergessen" begriffen, in einem Bendziner Protagonisten ihren eigenen Vater erkannt und ihre Tiefkühlsucht kuriert hat, will sie sogar als "Ohrenzeugin" Frau Kugelmann unterstützen: "Erkennen Sie mich als Ihre Nachfolgerin an, bilden Sie mich als Erzählerin aus, prüfen Sie mich mit aller Strenge!" Die prägenden Erfahrungen der ersten und zweiten Überlebenden-Generation kann Pradelski gut vermitteln, doch bis sie eine richtig gute Erzählerin wird, muss sie noch ein bisschen üben.

 

Minka Pradelski: Und da kam Frau Kugelmann. Roman. 256 Seiten. Frankfurter Verlagsanstalt. Frankfurt am Main 2005. € 19,90.