Am Erker 82

Thomas Glatz: Ubbelohde

Karl-Markus Gauß: Die Jahreszeiten der Ewigkeit

Martin Lechner / Tobias Premper: Gelati! Gelati!

 
Fritz Müller-Zech 82
Die Kolumne
 

Ich kenne mich nicht mehr aus. Die gewohnte Lektüre der Zeitungsfeuilletons wird immer häufiger zu einer Expedition durch unbekannte Kulturlandschaften. Das war einmal anders. Mit vierzehn konnte ich die Besetzungen diverser Rockbands herbeten, mit zwanzig wusste ich mehr über die Randbezirke des Literaturbetriebs, als meiner Umgebung lieb war, und an meinem dreißigsten Geburtstag referierte ich in sturztrunkenem Zustand über die gesellschaftliche Funktion avantgardistischer Kunst. Ob mir jemand zugehört hat – keine Ahnung. Schmerzlich bewusst ist mir allerdings, dass ich heute, als Endsechziger, nicht mehr mitreden kann.
Da ist der Literaturagent Ubbelohde von anderem Kaliber. Der "lockige Graukopf" vermag über vegane Trends ebenso eloquent zu parlieren wie über "sexuelles Multitasking". Und er weiß, was der literarische Markt verlangt. "Themen, die uns alle interessieren" nämlich. Doch dem glücklosen Autor, der uns von seinen bizarren Begegnungen mit dem umtriebigen Dampfplauderer erzählt, ist der Zeitgeist schnuppe. Keine "queeren Muslimas" finden sich in seinen Manuskripten, keine "starken Menschen, die menstruieren", und vom Klimawandel nicht die Spur. Stattdessen diese "seitenlangen Ortsbeschreibungen". Sein Manuskript sei "dermaßen Nuller-Jahre", urteilt Ubbelohde. Dann ist der alerte Szenekenner weg, nicht ohne dem Literaten empfohlen zu haben, sich einen "anständigen Beruf" zu suchen. Ob dieser Rat beherzigt wird, bleibt unerwähnt. Wahrscheinlich ist es nicht, denn der Erzähler beendet das letzte seiner sechs Kapitel währenden Höllenfahrt durch den Literaturbetrieb mit einem Gedicht.
Thomas Glatz' Kurzroman Ubbelohde ist eine ebenso vergnügliche wie lehrreiche Lektüre. Der Münchner Autor zeigt sich als Sprachkünstler, der das beharrliche Rauschen der Welt in hochkomische Prosa zu verwandeln versteht. Und die ist von heilsamer Wirkung, denn ihr gelingt es, uns Bewohner der literarischen Provinz mit dem Schicksal zu versöhnen. Schließlich sehnen wir uns danach, endlich unser Einverständnis kundtun zu können. Aber ebenso wichtig scheint mir zu erkennen, wann etwas überflüssig geworden ist. Deshalb habe ich mich entschlossen, der Gesellschaftskritik, die ich jahrzehntelang mit Leidenschaft betrieben habe, Adieu zu sagen.
Vielleicht gerät der österreichische Essayist Karl-Markus Gauß, dessen wohlformulierte Aufzeichnungen ich anteilnehmend und oft mit großem Einverständnis lese, auch einmal an diesen Punkt. Aber noch ist es nicht so weit. "Vor zwei Jahren", so schreibt er in seinem neuen Buch Die Jahreszeiten der Ewigkeit, habe er "die amerikanischen Republikaner inständig gewarnt", und zwar vor dem destruktiven Potenzial Donald Trumps. Auf ihn gehört haben sie nicht. Solche Erfahrungen erspare ich mir gern.
Stattdessen bewege ich mich lieber in meiner kleinen Welt aus Textbruchstücken und Modellflugzeugteilen. Mit einem ordentlichen Leim kommt man hier sehr weit, mögen sich die Objekte auch noch so störrisch zeigen. Was zusammengehört, entscheidet der Bastler. Ob das Ergebnis seiner Arbeit allerdings auch fliegt, ist nicht immer sicher. Sprachliche Produkte haben es da leichter als materielle. So wird sich ein Prosastück mit der Überschrift "Bitte nicht lesen" der Lektüre kaum entziehen können. Wahrscheinlich existiert es nur, weil der Autor Tobias Premper gerne die Wörter "Pigalle", "China" und "Jogginghose" in einem Text zusammenführen wollte. Auch die Idee, einen griechischen Joghurt zum Sprechen zu bringen, dürfte sich dem unwiderstehlichen Reiz verdanken, den die Flexibilität des Materials Sprache auf manche von uns ausübt. Da hat die so genannte Realität keine Chance.
Premper hat gemeinsam mit dem in dieser Zeitschrift schon mehrfach gelobten Autor Martin Lechner ein schön anzusehendes und sehr lesbares Buch mit 99 Prosaminiaturen zusammengestellt. 33 stammen von ihm und weitere 33 von seinem Kompagnon, das restliche Drittel wurde gemeinsam verfertigt. Manche Geschichte glaubt man unbenommen. Wer würde daran zweifeln, dass der Landesgruppenvorsitzende einer unschwer zu erratenden Partei nach einer Bierzeltrede abwechselnd Schnaps und Wasser in sich hineinschüttet, bis er nicht mehr unterscheiden kann, was er trinkt? Oder dass ein Junge mit der plötzlich durch die Abwesenheit der Eltern gewonnenen Freiheit nichts anzufangen weiß? Andere Texte verlassen sich ganz auf ihre semantische Eigendynamik oder setzen auf radikale Metafiktionalität. Das klingt zum Beispiel so: "Ich will diese Geschichte, die im Hintergrund unruhig träumt, beenden, bevor sie aus dem Bett springen und losstürmen kann ..." Wie dem Erzähler dieses riskante Vorhaben gelingt, liest man am besten selbst nach. Dann darf man staunen, wie so oft bei der Lektüre dieses formidablen Büchleins.
Ich allerdings habe mich für heute lange genug der lesenswerten Literatur gewidmet und greife zu einem dubiosen Kriminalroman in herausfordernder Sprache, dessen dritter Satz meine Stimmung präzise illustriert: "Der weitgehend blaue Himmel wurde von einzelnen Wolken durchzogen, die noch im Schatten lagen und deshalb bedrohlich am Himmel prangten."

 

Thomas Glatz: Ubbelohde. 129 Seiten. XS-Verlag. Berlin 2022. € 15,00.

Karl-Markus Gauß: Die Jahreszeiten der Ewigkeit. Journal. 312 Seiten. Zsolnay. Wien 2022. € 25,00.

Martin Lechner / Tobias Premper: Gelati! Gelati! 99 Miniaturen. 136 Seiten. Voland & Quist. Berlin/Dresden 2022. € 20,00.